Rotlichtviertel in Frankfurt am Main
© epd-bild / Falk Orth (M)
Die Lage der Prostituierten in Deutschland ist desaströs. Zuhälter und Prostituierte verbergen die tägliche Gewalt hinter der Fassade der legalen, freiwilligen Sex-Arbeit. Eine Kolumne von Alexander Maßmann.
Evangelisch kontrovers
Prostitution in Deutschland – Zeit für eine Neuregelung?
Wiederholt wurde zuletzt berichtet, wie desaströs die Lage der Prostituierten in Deutschland ist. Unser Ethik-Kolumnist Alexander Maßmann fragt, was zu tun ist.

Im Neuen Testament heißt es provokant, die Prostituierten kommen eher ins Reich Gottes als die religiöse Elite (Matthäus 21). In der theologischen Ethik wird das Thema der Prostitution aber oft ignoriert. Auch in der deutschen Politik nahm man sich erst vor zwanzig Jahren mit einem Prostitutionsgesetz vor, die Situation der Prostituierten zu verbessern.

Um dieses Gesetz ging es auch, als neulich der Spiegel mit einem schockierenden Bericht über die Situation der Prostituierten in Deutschland berichtete – unter dem Titel "Vergewaltigt, vergessen, verloren". Entsprechend gebe ich an dieser Stelle eine Trigger-Warnung. Seit dem Prostitutionsgesetz vor 20 Jahren ist die Rechtslage der Prostituierten in Deutschland besonders liberal geregelt, im Unterschied zu anderen europäischen Ländern. Ein weiteres Gesetz von 2017 sollte die bestehenden Regeln verbessern, hat aber kaum echte Neuerungen gebracht.

2002 wollte man den Prostituierten mehr Rechtssicherheit geben. Wenn Sozialarbeiterinnen ihnen etwa bessere sanitäre Bedingungen verschaffen wollten, wollte man das nicht mehr als Förderung einer unsittlichen Handlung erschweren. Doch der Versuch einer Reform ist gescheitert. Das legt jetzt auch eine neue Studie nahe, aber auch Erfahrungsberichte von Betroffenen.

Krasse Gewalt

Inzwischen hat sich gezeigt, dass Zuhälter seit 20 Jahren immer mehr junge Frauen in einen Strudel von Gewalt reißen. In Deutschland kaufen täglich über eine Million Männer Sex bei etwa 250.000 Prostituierten. Die Zahlen sind unsicher, doch Ermittler gehen davon aus, dass der größte Teil von ihnen unter Zwang handelt. Sehr oft sind die Prostituierten junge Frauen aus Bulgarien oder Rumänien, die kaum Deutsch sprechen und oft erst durch den Menschenhandel nach Deutschland kamen. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs sind werden auch Frauen aus diesem Land verstärkt in Deutschland sexuell ausgebeutet. Huschke Mau, die die Prostitution überlebt hat, spricht hier von kolonialer Ausbeutung. Anscheinend ist kein anderes europäisches Land so bedeutend für den internationalen Menschenhandel und die Prostitution wie Deutschland. 

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Soll man den Freiern verbieten, Sex zu kaufen, aber die Prostituierten selbst nicht belangen?

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Durch stetige Vergewaltigung brechen Zuhälter Frauen, wie Überlebende bestätigen. Oft werden sie auch in eine Schuldenfalle getrieben. Die Sexualpraktiken, mit denen sie dann ein wenig Geld verdienen, sind anscheinend oft so brachial, dass sich auch die sogenannten Freier wundern, weshalb überhaupt jemand so etwas mitmacht.

Freiwillig in der Prostitution? Die Medien

In den Medien werden dagegen häufig Frauen präsentiert, die anscheinend selbstbestimmt und freiwillig die Prostitution (den "Escort"-Bereich) wählen – von der dänischen Serie "Borgen" und "Women at War" (Netflix) bis hin zu zahlreichen Infotainment-Sendungen. Man gefällt sich beim Erzählen einer Story mit scheinbar feministischem Anstrich, in der sich Frauen anscheinend stark und selbstbestimmt über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzen. Man flirtet mit dem Tabubruch, aber anscheinend wollen wir uns auch ein wenig beruhigen – ganz so schlimm sind unsere Männer anscheinend doch nicht. Wer diesem Bild folgt, spricht von Sex-Arbeit und wird das Gesetz von 2002 insgesamt gutheißen.

Aber es liegt auf der Hand, dass auch Journalisten viel leichter Frauen finden, die ihre Arbeit offen als reguläre, selbstbestimmte Tätigkeit darstellen. Die Berichterstattung über andere Prostituierte ist sehr viel schwieriger: Sie sind zu sehr von krasser Gewalt und von Scham gezeichnet und werden von Zuhältern erpresst. Dieser gewalttätige Bereich ist seiner Natur gemäß weniger sichtbar. Doch mangelnde Sichtbarkeit bedeutet nicht, dass dieser Bereich kleiner ist. Man tappt in den "selection bias": Die freiwillige Sex-Arbeit, die man sieht, ist in den Medien überrepräsentiert; sie kann nicht repräsentativ sein.

Die Freiwilligkeit als Fassade

Entsprechend fatal ist auch die Wirkung des Gesetzes von 2002: Zuhälter und Prostituierte verbergen die tägliche Gewalt hinter der Fassade der legalen, freiwilligen Sex-Arbeit. Zu einem Nachweis der Nötigung müsste die Polizei größere Ermittlungen anstellen, doch das Prostitutionsgesetz erschwert das, weil es Prostituierte vor dem Pauschalverdacht und der Gängelung schützen will. Zwar mag es tatsächlich Sex-Arbeiterinnen geben, die ihre Tätigkeit freiwillig und ohne Zwang ausüben. In der öffentlichen Diskussion verbirgt die Freiwilligkeit der einen aber oft die Gewalt an den anderen. 

Was heißt hier freiwillig?

Hinzu kommt auch aus psychologischer Sicht, dass wir anscheinend die Freiwilligkeit leicht überschätzen. Das ist eine brisante Vermutung, aber man muss zumindest erwägen, ob Prostituierte sich teils in einer Art Stockholm-Syndrom mit ihrem gewalttätigen Zuhälter identifizieren. Huschke Mau berichtet: Frauen meinen kurzfristig, sie handelten selbstbestimmt, einfach um eine ausweglose Situation durchzustehen und mit dem Trauma klarzukommen. Im vollen Sinne kann man dann aber nicht vom freien Willen reden. 

Damit wäre auch ein Fragezeichen anzubringen an ethische Entwürfe, die meinen, nicht Gewalt sei das Kriterium des Moralischen, sondern die Freiwilligkeit. Das ist eine brisante Überlegung: Feministinnen kämpfen ja oft dafür, dass man Frauen beim Wort nimmt. Wenn Frauen "nein" sagen, heißt das "nein" – aber dann heißt "ja" ebenfalls "ja". Das wäre zumindest aus rechtlicher Perspektive konsequent. Ich möchte auch die Freiwilligkeit nicht prinzipiell unter Verdacht stellen: Es sollen nicht wieder Männer entscheiden, was für Frauen gut ist. Doch zugleich müssen wir Not und krasse Gewalt ernst nehmen. Kriterium der Freiwilligkeit ist hier nicht die bloße Aussage der Prostituierten oder ihr augenblickliches Empfinden. Man sollte besser auf "die Trias ‘Aufnahme, Ausu?bung und Ausstieg’" schauen: Hat eine Frau die Prostitution aus freien Stücken aufgenommen, übt sie sie freiwillig aus und kann sie auch ungehindert damit aufhören? 

Letztlich entscheidend in der rechtlichen und moralischen Bewertung der Prostitution dürfte aber sein, dass die freiwilligen Sex-Arbeiterinnen so oder so in der Minderheit sind. Sollten sie das Gewerbe ihrer Wahl nicht ausüben dürfen, ließe sich das rechtfertigen, wenn damit zugleich die massive Gewalt abnähme, mit der Zuhälter zahlreiche Frauen zur Prostitution nötigen. Man könnte etwa die Sexualität zu den Gütern zählen, die aus moralischen Gründen nicht gekauft werden dürfen, so wie das auch mit menschlichen Organen, Menschen oder Patenten auf Lebewesen der Fall ist. Insgesamt ist also die Freiheit selbstbestimmter Sex-Arbeiterinnen nur ein schwaches Argument für das bestehende, liberale Prostitutionsgesetz. 

Das nordische Modell

Eine Alternative zum gegenwärtigen Prostitutionsgesetz besteht in dem sogenannten nordischen Modell. In Schweden, Norwegen, Frankreich und anderen Ländern bleibt zwar das Handeln der Prostituierten legal, doch der Kauf ihrer Dienste ist verboten. Flankiert wird das Sexkauf-Verbot von verstärkter Hilfe zum Ausstieg aus dem Rotlicht-Milieu. Huschke Mau, die das gegenwärtige liberale deutsche Recht hart kritisiert, spricht sich für diese Regelung aus. Aufgrund ihrer Erfahrung fordert sie die Abschaffung der Prostitution, und ein Sexkauf-Verbot wäre laut ihr ein erster Schritt. In dieselbe Richtung weist die erwähnte neue wissenschaftliche Studie.

Eine Abschaffung der Prostitution wäre zu wünschen. Ob ein Sexkauf-Verbot der Weg dorthin ist, ist aber noch eine offene Frage. Die Diakonie Heidelberg beantwortet sie z.B. mit ja, die Diakonie Hamburg aber mit nein. Denn es ist zu bedenken: Die Zuhälter werden nicht kampflos hinnehmen, dass ihnen ein Sexkaufverbot die Einkommensquelle entzieht. Sie dürften versuchen, die Freier entschieden vom Zugriff der Polizei abzuschirmen. Dazu müssten sie die Prostituierten noch resoluter kontrollieren, damit die Behörden nicht über den Kontakt zu ihnen die Freier zu fassen bekommen. Entsprechend würden sie auch den Kontakt von Sozialarbeiterinnen zu Prostituierten unterbinden. Es ist deshalb plausibel, dass ein Sexkaufverbot die Zuhälter veranlasst, die Prostituierten noch krasser zu entrechten und noch konsequenter zu einem Leben im Untergrund zu nötigen. Dann würde ein Sexkaufverbot ironischerweise zu noch härterer Gewalt gegen die Prostituierten führen. 

Dilemma

Studien bestätigen zwar, dass das nordische Modell zu einer Abnahme der offenen Prostitution führt. Ob es insgesamt eine drastische Abnahme der Prostitution bedeutet, ist aber fraglich. Selbst wenn dem so ist, ist nicht klar, was vorzuziehen ist: weniger Prostituierte, die aber umso entschiedener entrechtet werden, oder mehr Prostituierte, die zwar auch harsche Gewalt erleiden, denen aber der Kontakt zu Sozialarbeiterinnen möglich bleibt und für die der Ausstieg nicht ganz so unrealistisch erscheint. 

Möglich ist immerhin, dass ein Sexkaufverbot den Menschenhandel in Deutschland so einschränken würde, dass es auch in den Nachbarländern zu weiteren Folgen kommt. Würde möglicherweise die verdeckte Prostitution auch in den Ländern abnehmen, die das nordische Modell bereits praktizieren, wenn Deutschland nicht mehr die internationale Drehscheibe des Menschenhandels wäre? Vielleicht könnte es im internationalen Zusammenhang zu einer klaren, überproportionalen Abnahme der betroffenen Individuen führen. Auch wenn für sie das nordische Modell ein noch schlimmeres Schicksal bedeuten könnte, würde sich womöglich eine überproportionale Abnahme der Zahlen positiv auf das Folgenkalkül des politischen Handelns in Deutschland auswirken. Das wäre immerhin ein Argument für das nordische Modell – doch diese Diskussion ist noch zu führen und fachwissenschaftlich zu unterfüttern.

Ausstiegshilfe

Trotz dieses Dilemmas bleiben immerhin noch andere Möglichkeiten bestehen. Wir brauchen mehr Angebote für die Ausstiegshilfe. Dazu gehören etwa Schuldner- und Rechtsberatung und eine intensivere Begleitung durch Sozialarbeiterinnen. Der Podcast "Karte und Gebiet" möchte dazu motivieren mit dem Bibelvers: Die Prostituierten kommen eher in das Reich Gottes als die religiöse Elite. Und der blühende Menschenhandel aus Osteuropa noch Deutschland bleibt ein Riesenskandal. Es ist doch nicht zu glauben, dass es keine Mittel dagegen geben sollte?!