Passt das zusammen: die Gestaltung menschlicher Gemeinwesen einerseits und inneres Leben, Gott und Religion andererseits? Für viele in Deutschland sind das verschiedene Bereiche. Gott und Religion gehören in die Privatsphäre. Sie gehören sozusagen am Sonntag in die Kirche. Sie sind für das Seelenheil zuständig. Politik oder die Gestaltung unseres täglichen Miteinanders, so denken viele, hat damit wenig zu tun. Die folgt ganz anderen Regeln. Andere Religionen kennen diese Trennung oft nicht. Auch von manchen Christ*innen wird diese Trennung in Frage gestellt gesehen.
In den 1970er Jahren entstand in Südafrika das sogenannte Bibel-Teilen. Menschen aus der Nachbarschaft trafen sich in kleinen christlichen Gemeinschaften, lasen die Bibel und besprachen die Aufgaben, die in ihrer Nachbarschaft anstanden. Sie entwickelten dafür sieben Schritte. Der erste und letzte Schritt ist ein Gebet. Der zweite bis fünfte Schritt ist ein gemeinsames Betrachten eines biblischen Textes. Im sechsten Schritt schauen alle gemeinsam auf die Aufgaben und Herausforderungen der Nachbarschaft, in der sie gemeinsam leben: Welche Aufgaben stehen an, was soll getan werden? Dieser sechste Schritt schaut auf die Gestaltung und Regelung des menschlichen Gemeinwesens Nachbarschaft. Er ist eingebettet in spirituelle Übungen: Bibel lesen und beten.
Eine ähnliche Verbindung hat sich in der befreiungstheologischen Bibelauslegung in Lateinamerika entwickelt. Im Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln wird die Lebenswirklichkeit wahrgenommen, von biblischen Texten her beurteilt und daraufhin gehandelt, so dass eine neue befreite Lebenswirklichkeit entsteht.
Noch ein drittes Beispiel, diesmal aus Deutschland. 1968 entstand in einem ökumenischen Arbeitskreis das Konzept des politischen Nachtgebets. Neben politischer Information waren biblische Texte in Verbindung mit Predigt, Meditation oder Diskussion Teile eines Gottesdienstes. Einflussreich waren unter anderem Gedanken der Theologin Dorothee Sölle, für die theologisches Nachdenken ohne politische Konsequenzen an Heuchelei grenzte.
Glaube prägt das Handeln
Diese drei Beispiele spiegeln etwas wider, was mir wichtig ist. Mein Glaube prägt mein Handeln. Die Trennung zwischen einer säkularen und einer religiösen Sphäre halte ich für eine schwierige Trennung. Was mich im Innersten bewegt, hat sehr viel mit meinen religiösen Überzeugungen zu tun. Was mich im Innersten bewegt, verändert auch meinen Blick auf die Welt, die mich umgibt, und wirkt sich auch auf meine Handlungen aus. Beides lässt sich nicht voneinander trennen. Wenn ich biblische Texte lese und darüber nachdenke, beeinflusst das meinen Blick auf die Welt und mein Handeln in der Welt. Was ich bei meinem Handeln erlebe, nehme ich als Wahrnehmungsmuster mit in mein "geistliches", spirituelles Leben. Mir fallen möglicherweise neue Aspekte an biblischen Texten auf, die mir wieder Anstöße für mein Denken und Handeln geben. Es ist eine – gewissermaßen hermeneutische – Bewegung, in der das eine das andere beeinflusst.
In den letzten Jahren habe ich entdeckt, wie wertvoll in dieser Bewegung Exerzitien im Alltag sein können. Bei manchen Exerzitien gehen Menschen bewusst aus dem Alltag heraus und konzentrieren sich für einige Tage oder Wochen auf geistliche Übungen. Das hat seinen Wert. Exerzitien im Alltag bleiben dagegen bewusst im Alltag. Man nimmt sich jeden Tag eine halbe Stunde dafür Zeit, ein Thema in der Stille zu betrachten, und nimmt es mit in seinen Alltag hinein. Einmal in der Woche trifft man sich dann mit anderen, die das gleiche machen, und teilt miteinander die Erfahrungen, die man gemacht, und Gedanken, die man gedacht hat. Für mich sind Exerzitien im Alltag ein Ausdruck der Verwobenheit von Religion und Alltag geworden.
Gefahr von Vereinnahmung
Ein ökumenisches Team von missio München und Mission EineWelt, in dem ich Mitglied war, hat eine Anleitung für Exerzitien im Alltag entwickelt, die die Sustainable Development Goals (SDGs) auf dem Hintergrund geistlicher Texte reflektieren. Zum Beispiel lässt uns der Schöpfungspsalm 104 die Wunder der Schöpfung entdecken. Er regt uns aber auch an, darüber nachzudenken, wo wir daran beteiligt sind, dass diese Schöpfung gefährdet wird. Die Gegenüberstellung von geistlichen Texten und den SDGs gibt uns Anstöße für eine Neuausrichtung der Gestaltung unseres täglichen Lebens im Blick auf die aktuellen Herausforderungen.
Eine Gefahr gibt es jedoch, wenn Spiritualität und Politik so zusammenhängend gedacht werden: die Vereinnahmung und Instrumentalisierung der Religion durch Politik, die wir auch in der Gegenwart immer wieder erleben. Immer wenn sowohl politisch Verantwortliche als auch Angehörige einer Kirche oder Religion anfangen, Absolutheitsansprüche zu entwickeln und die einzige Wahrheit für sich zu beanspruchen, entstehen unheilige Allianzen. Die Folgen sind leider meist verheerend.
Ich verstehe die Verbindung von Spiritualität und Politik so: Ich suche meinen Weg, blicke dabei auf Gott und finde Leitlinien für mein Denken und Handeln. Ich muss mir bewusst sein, dass mein Blick auch falsch sein kann, einer Korrektur bedarf. Vielleicht ändert sich auch mein Blickwinkel im Lauf der Zeit. Der Austausch und die Korrektur durch andere ist wichtig. Deswegen ist Religion nicht Privatsache, sondern gehört in den Dialog und das gemeinsame Nachdenken aller.
evangelisch.de dankt der Evangelischen Mission Weltweit und mission.de für die inhaltliche Kooperation.