Dorothee Sölle beim 1985 bei dem 21. Deutschen Evangelischen Kirchentag
© © epd-bild / Norbert Neetz
Die Theologieprofessorin Dorothee Sölle (1929 - 2003) beim Evangelischen Kirchentag in Düsseldorf 1985.
20. Todestag von Dorothee Sölle
Credo ohne die Allmacht Gottes
Dorothee Sölle ist eine Entdeckung wert, sagt Sarah Jäger, Juniorprofessorin für Theologie von der Uni Jena. Sölles Mann Fulbert Steffensky versucht ein Resümee über ihr Wirken. Die Theologin Ursula Baltz-Otto, eine Freundin erinnert an ihre kämpferische Seite. Audiomitschnitte von Dorothee-Sölle geben einen Eindruck von der streitbaren Theologin wieder.

In diesen Tagen wird an diese meistgelesene evangelische Theologin des 20. Jahrhunderts erinnert. Radikal solidarisch, links und kapitalismuskritisch sind ihre Texte. Stunden vor ihrem Herztod am 27. April 2003 war sie in der Evangelischen Akademie Bad Boll zu hören. Sie sprach über Gott und das Glück und die Mystik:

"Wir fangen erst dann an glücklich zu sein, wenn wir begreifen, dass Leben ohne Staunen nicht lebenswert ist. ...." Und sie fährt fort: "Dieses umfassende Verständnis von Wunder des Daseins ist unabhängig davon, ob wir den Ursprung der Schöpfung personal fassen wie in den abrahamitischen Religionen oder nicht personal fassen."  Hier ein Audioausschnitt:

Dorothee Sölles letzter Vortrag 2003 in Bad Boll.

Gemeinsam mit ihrem Ehemann Fulbert Steffensky teilte sie sich das Podium. Das Glück sei ein Leben "ohne warum", davon berichteten auch Mystiker wie Meister Eckhart. Das Buch "Mystik und Widerstand" ist eines ihrer Hauptwerke. Sölle ist 73 Jahre alt, schwer zuckerkrank. Später wird sie wegen eines Herzinfarktes in die örtliche Klinik eingeliefert und stirbt an den Folgen.

Ihre Bücher sind zeitgebunden. Schon in ihren ersten Werken ab Mitte der 1960er Jahre sorgt die Literaturwissenschaftlerin und Theologin für Aufregung. Sie verlangt nichts weniger als eine neue Theologie nach dem Geschehen von Ausschwitz und der Millionenfachen Ermordung der Juden in Europa. Eine Theologie nach dem Tode Gottes, das heißt: Man kann nicht mehr von der Allmacht Gottes sprechen. So fasst das ihre Freundin, die Theologin Ursula Baltz-Otto, zusammen.

An die Allmacht Gottes glaubte sie nicht mehr

Sie wollte ein Gottesverständnis, "wo deutlich wird, dass die Menschen Gott brauchen und Gott die Menschen braucht", sagt die Mainzer Theologin. Und so verstand Dorothee Sölle Gott nicht als höchstes Wesen, sondern mehr als eine Beziehung zum Leben. "Gott wird nicht gefunden, wie etwas Kostbares oder eine blaue Blume", sagt Baltz-Otto. Gott geschieht oder ereignet sich, auch im Tun der Menschen. In Sölles Nachdenken über Gott ist die Schöpfung nicht abgeschlossen, sondern verlangt die Mitarbeit der Menschen. Das ist eine Idee aus der jüdischen Theologie.

Gott nimmt den Menschen nach den Worten Sölles in Verantwortung. Diese Gedanken hat sie in ihrem Credo zusammengefasst. Das Credo (wörtlich: Ich glaube) ist eigentlich das Glaubensbekenntnis, das in der Kirche gesprochen wird. Es beginnt mit den Worten: "Ich glaube an Gott, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn...." Doch Sölle macht daraus ein eigenes Werk:

"Ich glaube an Gott, der die Welt nicht fertig geschaffen hat,
wie ein Ding, das immer so bleiben muss
der nicht nach ewigen Gesetzen regieret
die unabänderlich gelten
nicht nach natürlichen Ordnungen
von Armen und Reichen...Herrschenden und Ausgelieferten

Ich glaube an Gott, der den Widerspruch des Lebendigen will                             
und die Veränderung aller Zustände
durch unsere Arbeit, durch unsere Politik..."

Dieses Credo hatte sie auch in den berühmten Politischen Nachtgebeten von 1968 bis 1972 in Köln vorgetragen. Mit politischen Diskussionen, Gebet und Meditation im Gottesdienst in der Kirche.  

Gemeinsam mit ihrem Mann Fulbert Steffensky gründete Sölle das Format der Politischen Nachtgebete. Steffensky war Theologe, einst Benediktiner-Mönch. 1969 heiratete sie den Mitstreiter in zweiter Ehe. Als Religionspädagoge lehrte er später in Hamburg und arbeitete als Autor. Sie ging nach New York als Professorin. Das Credo seiner Frau versteht Steffensky so, dass sie sich gegen ein Verständnis von Gott wandte, der schon alles richtet und alles gut macht. Das sei "vielleicht das Stück Atheismus in ihr", sagt er.

Der Theologe Fulbert Steffensky war mit der evangelischen Theologin und Dichterin Dorothee Sölle bis zu ihrem Tod 34 Jahre verheiratet.

Sölle dachte nur diesseitig. Ein Jenseits war für sie nicht relevant. Aber sie war darauf bedacht, die Endlichkeit des Menschen zu retten, in allen Dingen, sagt Steffensky. Sie fragt danach, was der Gedanke der Unendlichkeit des Menschen anrichtet, auch in diesem Leben. Was es bedeutet, wenn der Mensch Herr über die Bäche sei und Herr über das Leben oder den Tod der Wälder sein müsse. Dagegen forderte sie eine Grenze als Befreiung des Menschen von sich selbst, die "Begrenzung vom Wahn über alles siegen zu müssen". Das müsse man mitdenken beim Credo. Hier das Audio mit Fulbert Steffensky.

Fulbert Steffensky über Dorothee Sölle
    

Wie politisch soll Kirche heute sein?

Für die Theologin Sarah Jäger ist das Credo Sölles eigentlich die Kurzfassung ihrer Theologie. Jäger ist Juniorprofessorin für Theologie in Jena. Sie legt den Text jungen Student:innen vor. Jäger sieht im Werk Sölles den feministischen Gedanken immer noch aktuell. Auch die ganze Frage danach, wie politisch Kirche sein muss, "stellt sich für uns nochmal neu", sagt sie. Sölle ging es darum, Spiritualität und politisches Engagement zusammenzudenken, wie in ihrem Buch "Mystik und Widerstand". Das seien Spuren und Fährten, die es lohne weiterzudenken.

Sölle spricht über Verantwortung aus christlicher Sicht

Mit der Mystik hätte sich Sölle schon früh beschäftigt, sagt Fulbert Steffensky. "Es war ein Feuer, das langsam Glut bekam, bis zum Mystik-Buch". Bei der Frage, was von Dorothees Nachdenken und von ihren vielen Vorträgen eigentlich bleibt, da wird Steffensky nachdenklich. Von ihren 40 Büchern sei fast keines mehr in Deutschland in Papierform zu kaufen. An den Universitäten sei Sölle kein Thema. Die Theologin, die von 1975 bis 1987 Professorin an der New Yorker Union Theological Seminary war, auf dem Lehrstuhl von Paul Tillich. Sie nannte sich am Ende nur noch Schriftstellerin oder Theo-Poetin. Sie war aktiv im Protest, ging auf die Straße gegen Aufrüstung. Und kämpfte gegen Apartheid und die Unterdrückung von Armen und Entrechteten, für Solidarität mit Menschen in Entwicklungsländern. 

Was von ihr bleibt, ist schwer zu sagen. Fulbert Steffensky glaubt, dass die Arbeiten von Dorothee in die kirchlichen Gemeinden eingeflossen sind. An den Universitäten hieß es, sie sei nicht wissenschaftlich genug. Aber in den Gemeinden, in den Predigten, finde sich ihr Geist wieder. Er habe viele Abwandlungen von Dorothees Texten, neue Gedichtfassungen zugeschickt bekommen. In den Fürbitten "würde man heute nicht mehr sagen: Lieber Gott, mach dass die Flüchtlinge nicht ertrinken, sondern stärke mich, dass ich arbeiten kann gegen den Tod dieser Menschen." Da hätten Menschen ihr Bedürfnis nach Verantwortung aufgegriffen, sagt Steffensky. Das seien Selbstverständlichkeiten, die "gut ins kirchliche Bewusstsein, ins theologische Bewusstsein eingegangen sind, ohne dass man sich immer auf Dorothee beruft".

Für Jäger ist Sölle immer noch Inspiration. Ihre linksgefärbte Kapitalismuskritik sei sehr kontext- und zeitgebunden. Sölle selbst habe sich als Versöhnerin gesehen. Sölle sei in ihrem Nachdenken "tief geprägt und getragen von einer Spiritualität, die aus der Versöhnung Gottes lebte". Aber sie hätte sich aus diesem Gehaltensein auch so motiviert gefühlt, Position zu beziehen und die Menschen aufzurütteln oder auch radikal zu ermahnen. Jäger glaubt, dass die Kirchen die Stimme Sölles auch heute brauchten. Eine Stimme, die aufrüttelt und an der man sich reiben könne. Gerade da, wo man nicht mit ihr einer Meinung sei, könnte der Diskurs aber wichtig und inspirierend sein.  

Ob Sölle selbst an ein Leben nach dem Tod geglaubt hat, bleibt unklar. Sie schwankte zwischen großer Hoffnung und Skepsis. Sölle war ja ein widersprüchlicher Mensch, sagt ihr Ehemann lachend. Wie alle klugen Menschen, fügt er hinzu. Sie glaubte vieles nicht und ging doch in die Kirche, sang Kirchenlieder, betete. Sie liebte die Tradition, auch wenn sie vieles kritisierte. Steffensky erinnert sich, sie hätte nicht vom Jenseits gesprochen. "Das andere kriegen wir später", sei so ein Spruch von ihr gewesen. Sie hätte eher in poetischen Bildern gesprochen, sagt Steffensky. "Ich werde, wenn ich sterbe, ein Tropfen im Meer Gottes sein."  

Ähnlich formuliert es Ursula Baltz-Otto. Dorothee Sölle glaubte nicht an die Dogmen der Kirche, weder an Himmel und Hölle noch an das jüngste Gericht und auch nicht an die Auferstehung der Toten. Sie hatte so einen mystischen Gedanken, dass man ein Tropfen im Meer wird, im Meer der Liebe Gottes. Das Ende der körperlichen Existenz hatte ihr keinen Schrecken eingejagt. Sie hatte den Mut, die Endlichkeit zu bejahen, wie Paul Tillich einmal gesagt hatte. Das wollte sie auch: "Ich bin endlich. Ich werde sterben, ohne darüber verzweifeln zu müssen." 

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Info:

Auf der Website dorothee-soelle.de sind Veranstaltungen zu Dorothee Sölle zu finden. Auch ihr letzter Vortrag aus dem Jahr 2003 aus der Evangelischen Akademie Bad Boll.