Was hat der frühe Ruhm mit Anne-Sophie Mutter gemacht, wie sah und sieht ihr Leben jenseits der Weltkarriere aus? Und schließlich: Wie ist es ihr gelungen, ihren Beruf, der vor allem Berufung war, mit ihrem Familienleben zu koordinieren? Die Frage mag unbotmäßig erscheinen, weil sie einem Mann nicht gestellt würde, aber nach dem frühen Tod des Gatten war sie alleinerziehend.
Sigrid Faltin hat nicht alle diese Aspekte in ihrem fesselnden Porträt erschöpfend behandelt, aber vielleicht durfte sie auch nicht; Mutter hatte sich das letzte Wort ausbedungen. Der Film macht jedoch nicht den Eindruck, als habe es Szenen gegeben, die der Musikerin nicht gefallen haben könnten, zumal sie großzügige Einblicke in ihr Innenleben gewährt: Wer Anne-Sophie Mutter bislang nur oberflächlich kannte und gern ein paar private Details über diese faszinierende Frau erfahren möchte, wird nicht enttäuscht. Wer allerdings je das Glück hatte, sie live zu erleben, weiß ihrer Ansicht nach ohnehin bereits alles über sie: "Musiker sind am privatesten, wenn sie auf der Bühne stehen."
Viel entscheidender ist jedoch ein anderes Qualitätsmerkmal des Films. Die Geigerin, die dem Titelzusatz "Vivace" (lebhaft) mehr als gerecht wird, hat ihre Zustimmung zu diesem Projekt gegeben, weil sie hofft, es könne dazu beitragen, Klassik dort zu positionieren, wo sie hingehöre: in die Mitte der Gesellschaft; und natürlich wird in den neunzig Minuten entsprechend viel musiziert.
Dennoch ist die Musik mitunter nur Mittel zum Zweck, und darin liegt womöglich das größte Verdienst der erfahrenen Dokumentarfilmerin Faltin: Ihr Porträt ist in der Lage, auch jene Menschen anzusprechen, in deren Dasein Klassik, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielt. Das liegt selbstredend vor allem an Anne-Sophie Mutter selbst, die eine unverstellte Herzlichkeit ausstrahlt, aber auch an dem überraschenden Konzept, das sich Faltin ausgedacht hat; und so wird aus der ohnehin guten Geschichte auch eine sehr gut erzählte Geschichte, die außerdem munter ständig die Ebene wechselt, was für viel Kurzweil sorgt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Roter Faden ist eine Bergwanderung von Faltin, Mutter und deren Dackeldame Bonnie in der Nähe von Kitzbühel. Hier scheint das Porträt noch am ehesten dem typischen Muster einer normalen TV-Produktion mit Fragen und Antworten zu entsprechen, zumal Spaziergänge erfahrungsgemäß die Zunge lockern, weshalb die in Wehr bei Lörrach aufgewachsene Badenerin allerlei heitere Anekdoten zum Besten gibt. Die beiden Frauen sagen zwar "Sie", aber eine gewisse Nähe ist spürbar. Für Abwechslung ist ohnehin gesorgt: Mal kommt Bonnie vom rechten Weg ab, mal verlassen den Kameramann (Jürgen Carle) die Kräfte.
Zwar besteht auch der Rest des Films neben viel Archivmaterial größtenteils aus Gesprächen, aber die hat Faltin ganz anders gestaltet als erwartet: Anstatt einfach bloß Karrierehöhepunkte aneinanderzureihen, zeigt sie die Musikerin im Austausch mit Freunden und Weggefährten wie dem Dirigenten Daniel Barenboim, dem Filmmusikkomponisten John Williams oder ihrem langjährigen Pianopartner Lambert Orkis. Was jeweils wie eine zwangslose Plauderei wirkt, hat tatsächlich den Charakter gegenseitiger Interviews. Dem Zauberkünstler Steve Cohen beantwortet sie auch die Frage nach ihrer grundsätzlich schulterfreien und stets exquisiten Bühnenkleidung; ein Aspekt, auf den die virtuose Violinistin in Interviews zuverlässig mit Unmut reagiert.
Ausgerechnet die am schwierigsten zu arrangierende Begegnung mit Roger Federer hält nicht ganz, was sie verspricht, selbst wenn es durchaus amüsant ist, wie der musikalische Weltstar plötzlich zum ganz normalen Fan wird. Trotzdem ist auch diese Plauderei aufschlussreich, denn die Auswahl der Gesprächspartner ist natürlich weder wahllos noch zufällig: Sie sind ausnahmslos Größen ihres Fachs, sie alle sind es gewohnt, sich auf einer Bühne zu bewegen, und schließlich ist auch das Dasein als Geigerin eine körperliche Herausforderung. Klavierspielen, sagt Mutter, sei selbst mit hundert noch möglich, aber irgendwann werde sie nicht mehr die nötige Kraft für die Bogenhand haben. Davon ist sie derzeit zum Glück noch weit entfernt: Am 29. Juni wird sie sechzig. Der Arbeitstitel des Films lautete "Eine Zwischenbilanz".