Aus der Hamburger Elbphilharmonie wurde letzte Woche eine Aufführung der Oper "Porgy and Bess" übertragen. Harry Belafonte (der vor ein paar Wochen verstorben ist) lehnte vor Jahrzehnten ab, in einer Verfilmung mitzuwirken, weil er das Stück für rassistisch hielt. Es geht um das Leben von Schwarzen in einem Slum, geprägt von Armut, Gewalt und Drogen. Doch selbst dort bringt das Stück echte Humanität zum Leuchten. Dazu trägt natürlich die großartige, bluesige Musik bei. Aber schon lange wird das Stück von kritischen Diskussionen über "kulturelle Aneignung" begleitet. George Gershwin schrieb die Oper in einem Team mit anderen Weißen – doch konnten sie sich das Leben von Schwarzen nicht anders vorstellen als in ethnischen Stereotypen?
Apropos kulturelle Aneignung – in Bad Segeberg wird gerade die Bühne für die Karl-May-Spiele aufgebaut. Dort beginnen in drei Wochen die Aufführungen. Auch die sächsischen Western-Abenteuer werden dafür kritisiert, dass eine ganze Branche von der klischeehaften Darstellung fremder Kulturen profitiert. Darüber wurde besonders letztes Jahr debattiert, als der Verlag Ravensburger ein Winnetou-Kinderbuch vom Markt nahm. Es sollte einen Sauerkraut-Western begleiten, der im Kino lief, aber als arg schablonenhaft kritisiert wurde.
Zahlreiche Generationen waren von Karl Mays Büchern fasziniert, und 400.000 Besucher:innen pilgerten letztes Jahr nach Bad Segeberg. Zur Verteidigung von Mays Werk hieß es, die Sympathie gelte einer unterdrückten Ethnie. Doch zugleich verbreiten die Geschichten das Stereotyp vom "roten Gentleman" (O-Ton May) – dem edlen Wilden, der deutschen Stadtkindern Fantasien vom unverdorbenen, naturnahen Leben schenkt. Seine scheinbaren Apache-Redewendungen hat May sich ausgedacht.
Alexander Maßmann wurde im Bereich evangelische Ethik und Dogmatik an der Universität Heidelberg promoviert. Seine Doktorarbeit wurde mit dem Lautenschlaeger Award for Theological Promise ausgezeichnet. Publikationen in den Bereichen theologische Ethik (zum Beispiel Bioethik) und Theologie und Naturwissenschaften, Lehre an den Universitäten Heidelberg und Cambridge (GB).
Was hat es also mit dem Vorwurf der kulturellen Aneignung auf sich? Geht es um historische Genauigkeit, um Respekt vor Kulturen, oder haben die Vertreter:innen der Identitätspolitik zu viel Freude am Zensieren? Hier und da hat sich bereits herumgesprochen, dass der Vorwurf der kulturellen Aneignung an sich sinnlos ist. Wichtig ist vielmehr, ob wir es mit besseren oder schlechteren Formen der moralischen Aneignung zu tun haben. Ich finde, wir sollten Karl May stärker von seinen heutigen Fans unterscheiden, und Porgy und Bess ist besser, als es zunächst scheint. Ein gelungenes Beispiel kultureller Aneignung sehe ich im "Schwarzen Christus".
Was ist kulturelle Aneignung?
Schwarze Musiker wie Louis Armstrong entwickeln den Jazz, doch es wird der weiße Klarinettist Benny Goodman als "King of Jazz" gefeiert. Schwarze Musiker entwickeln den Rhythm’n’Blues, doch als mit Elvis ein Weißer den Stil kopiert, wird er als "King of Rock’n’Roll" verehrt. Schwarze Musiker entwickeln den Rap, doch den durchschlagenden Erfolg feiert mit Eminem ein Weißer, der wieder nicht anerkennt, in wessen Spuren er dort wandelt. So erläutert der Philosoph Jens Balzer kulturelle Aneignung. In den Worten des Autors Greg Tate erklärt er: Weiße Künstler eignen sich vieles aus der schwarzen Kultur an, ohne den Urhebern Anerkennung zu zollen – nur die Bürde der Diskriminierung übernehmen sie nicht.
Ein unklares Bild bei Karl May
Man könnte gegen die Kritik der kulturellen Aneignung einwenden, dass bei Karl May die Sympathien den indigenen Völkern gelten – auch wenn er die damaligen Anschauungen verwendet, die uns heutzutage nicht mehr offenstehen ("Rothaut"). Damals entwarf der Autor seinen Helden Winnetou bewusst in positivem Gegensatz zu einer verbreiteten kolonialen Verunglimpfung der Apache als verlogen und hinterhältig. Könnte man dann nicht die Winnetou-Romane sogar für eine gute, moralische Form der kulturellen Aneignung halten?
Die Form des kolonialen Rufmords, gegen die sich May damals wandte, gibt es heute so nicht mehr. Dagegen fragt sich, ob sich viele heutige Winnetou-Fans nicht nur pauschal für "die Indianer" interessieren – also letztlich für Klischees. Haben sie schon einmal über die heutigen Mescalero-Apachen in der Reservation in New Mexico oder ähnliche Nationen nachgelesen? In der Bild-Zeitung kamen die jedenfalls nicht vor, als sie der ARD "cancel culture" in Sachen Winnetou vorwarf. Karl Mays Sympathie galt einer unterdrückten Ethnie – doch richtet sich die Sehnsucht der heutigen Winnetou-Fans auf etwas anderes als ein Phantom?
Kulturelle Aneignung als Problem
Wir sollten Karl May nicht mit seinen heutigen Fans in einen Topf werfen, denn beim Autor selbst ist es deutlicher, dass sein Werk ambivalent ist. Weshalb aber ist Winnetou heute noch so beliebt, und das gerade in der Bundesrepublik – seit 1952 mit den Spielen in Bad Segeberg und den erfolgreichen Filmen der 60-er? Mir scheint an Balzers Vermutung etwas dran zu sein: Bei Winnetou konnten und können sich die Deutschen unproblematisch mit den Opfern identifizieren – und zwar mit den Opfern eines Völkermordes. Hier haben wir Deutschen nicht das belastende Erbe, und wir können ausblenden, dass Deutsche im Namen unseres Landes einen Genozid verübt haben. Bei unserem bundesrepublikanischen Nachkriegs-Winnetou stehen wir auf der Seite der Guten.
Beim letzten Winnetou-Film wurde sogar kräftig Gebrauch von roter Schminke gemacht ("redfacing"). Das ist Rassismus. Dort, wo kein wohlwollendes Interesse an der Kultur der heutigen Apachen besteht, sondern wo sie um der Unterhaltung willen zu billigen Klischees werden, da liegt eine schlechte Form der kulturellen Aneignung vor.
Weniger schlechte Formen der kulturellen Aneignung
Bei "Porgy and Bess" dagegen kommt es nicht zum Blackfacing, dann die Gershwin-Brüder hatten ausdrücklich erklärt, dass die Oper allein von Schwarzen Sängern aufgeführt werden soll. Vielen Schwarzen Opernsänger:innen hat das Stück zum Durchbruch verholfen. Auch haben Schwarze Jazz-Musiker:innen in eigener Initiative immer wieder einzelne Nummern aufgeführt. Deshalb dürfte das gegenwärtige Interesse an Porgy and Bess weniger problematisch sein als das an Winnetou.
Der Dirigent der Elbphilharmonie, Alan Gilbert, wünscht sich andererseits, dass das Stück in Zukunft auch von nicht-Schwarzen Sängern aufgeführt wird. Denn selbstverständlich gibt es Armut, Gewalt, Drogen und Prostitution nicht nur unter Schwarzen. Es würde sich immerhin noch die Frage stellen, ob eine solche Produktion den Schwarzen Musikern den Jazz und den Blues wegnimmt. Vermutlich wäre es am besten, wenn musikalisch herausragende Parts mit Schwarzen Musikern besetzt werden, zu denen aber auch Sänger anderer Hautfarbe hinzukommen. Vielleicht wäre eine solche Inszenierung dann eine gute Form der kulturellen Aneignung.
Der Schwarze Christus: legitime kulturelle Aneignung
Eine Kultur, die nichts von anderen Kulturen aneignet, gibt es nicht. So stellte die Philosophin bell hooks vor ein paar Jahrzehnten fest, dass nicht die kulturelle Aneignung an sich das Problem ist. Die Frage lautet, zu welchem Resultat die Aneignung führt: Läuft es darauf hinaus, dass "Weiße ‘den anderen aufessen’ (also sich die nicht-Weißen Kulturen aneignen, indem sie sie herabsetzen)"?
Der Theologe Dietrich Bonhoeffer hatte 1930/31 während eines USA-Aufenthalts gesehen, wie sich afroamerikanische Gemeinden den Juden Jesus kulturell aneigneten. Nun stellte man sich Jesus als einen Schwarzen vor – und nicht wie so oft als dunkelblonder Nordeuropäer. Die Weiße Mehrheitsgesellschaft erlebte Bonhoeffer als so rassistisch, dass es Schwarzen Christen mit Selbstachtung gar nicht möglich war, die gängigen Bilder des europäischen Jesus auch in der Schwarzen Kirche aufzuhängen. 1939 meinte Bonhoeffer, dass Schwarze Christinnen und Christen gut daran taten, der Darstellung Jesu als Nordeuropäer einen "Schwarzen Christus" entgegenzusetzen.
Man sollte nicht bemängeln, dass Jesus historisch wohl nicht aussah wie jemand aus Subsahara-Afrika. Häufiger wird er wie ein Nordeuropäer dargestellt, und so sah er ebenfalls nicht aus. Doch im Vergleich zu einer vermeintlich historisch akkuraten Abbildung besteht das viel größere Problem in dem Rassismus, unter dem Schwarze immer wieder zu leiden haben. Wer hier besonders an historischer Präzision interessiert ist, sucht das Problem des Rassismus womöglich unter den Teppich zu kehren. Bei der Frage der kulturellen Aneignung geht es besonders um Gerechtigkeit zwischen heutigen Gruppierungen. Hier ergreift die kulturelle Aneignung von Jesus mit dem Bild eines Schwarzen Heilands Partei für die Unterdrückten.
Ausblick
Die Frage ist nicht, ob wir uns kulturelle Formen aneignen, sondern wie wir das tun. Ist es nicht vielen heutigen Karl-May-Fans egal, wie Apachen in New Mexico heute leben? Dass bei ihnen Winnetou zu einem bloßen Abziehbild wird, ist eine schlechte kulturelle Aneignung. Die Übertragung der Oper Porgy und Bess haben die Veranstalter dagegen vielfach zu kritischen Überlegungen ermutigt. Doch kulturelle Aneignung kann auch gelingen und positiv ausfallen. Ein Beispiel dafür ist die Abbildung von Jesus als einem Schwarzen.
Wie sollen wir uns gegenüber schlechten Formen der kulturellen Aneignung verhalten? Wohlgemerkt: Ein Verlag hat alle Freiheit, sein eigenes Begleitmaterial zu einem Film mit rassistischen Untertönen zurückzuziehen. Hier hat moralischer Druck durch Außenstehende kaum eine Rolle gespielt. Dagegen war die Bild-Zeitung etwas zu absichtsvoll darin, die breite Öffentlichkeit als unschuldiges Opfer einer intellektualistischen Elite inszenieren.
Interessanter wäre etwa die Frage, ob man ein Konzert absagen soll, weil die Reggae-Band aus Weißen Musikern besteht, die Rasta-Zöpfe tragen – obwohl eine inhaltliche Beziehung zu Bob Marleys Botschaft der Emanzipation Jamaikas nicht erkennbar ist? Diese Band betreibt anscheinend eine schlechte, oberflächliche Form der kulturellen Aneignung. Trotzdem scheint mir, dass eine Absage des Konzerts durch den Veranstalter eine Überreaktion wäre. Damit schafft man nur Unmut und den Trotz der Reaktanz. Wem die Causa Jamaikas oder das Problem schlechter kultureller Aneignung nahegeht, dürfte mit positiven Bildungsangeboten mehr erreichen als mit einer Verunglimpfung der Reggae-Band.