Der dreizehnte "Zürich-Krimi" beginnt mit einem Rückblick: Thomas Borchert schwelgt in Erinnerungen an gute alte Zeiten. Damals bildete er gemeinsam mit seinem Freund Antonius Bildermann den besten Zweier im Rudern an der Zürcher Hochschule. Die entsprechende Nostalgie ist das Band, das die beiden Männer heute noch verbindet. Deshalb versteht es sich von selbst, dass Wirtschaftsanwalt Borchert (Christian Kohlund) für seinen Freund Toni (Uwe Kockisch), Leiter eines erfolgreichen Biotech-Unternehmens, die vergleichsweise profane Aufgabe eines Ehevertrags übernimmt. Toni möchte demnächst zum zweiten Mal heiraten, sehr zum Unmut seines älteren Sohns: Julian (Johannes Meister) ist überzeugt, dass Tonis deutlich jüngere Verlobte (Idil Üner) bloß aufs Geld aus ist. Ein uralter Familienvertrag erlaubt ihm, auf der vorgezogenen Auszahlung seines Erbanteils zu bestehen. Als er entführt wird, werden die Karten völlig neu gemischt.
Die meisten Kidnapping-Krimis enden mit der Befreiung des Opfers und der Verhaftung der Täter. Das Drehbuch von Rainer Ruppert funktioniert anders. Borchert übernimmt die Lösegeldübergabe, Julian kehrt psychisch angeschlagen, aber ansonsten weitgehend wohlbehalten in den Schoß der Familie zurück; aber jetzt geht der Film erst richtig los.
Hauptmann Furrer (Pierre Kiwitt) von der Zürcher Kantonspolizei ist überzeugt, dass der junge Mann die Entführung inszeniert hat, und nicht nur das: Als die Leichen der Entführer gefunden werden, gilt Julian auch noch als Mörder, der die Zeugen beseitigt hat. Quasi über Nacht wird er vom Opfer zum Täter; Borchert muss die wahren Schuldigen finden, um den Sohn seines Freundes zu entlasten.
Das ist eine interessante, fesselnd umgesetzte und vorzüglich fotografierte Geschichte, die jedoch ein ganz erhebliches Manko hat: Es ist viel zu früh klar, wer hinter der ganzen Sache steckt. Das könnte zwar auch eine clevere Drehbuchfinte sein, aber das Motiv liegt ebenfalls auf der Hand, und wie so oft beseitigt die Besetzung den letzten Zweifel; ein enormes Manko, das den Reiz erheblich mindert. Ein zweiter Kritikpunkt ist handwerklicher Natur.
Fotografiert ist der Film wie alle "Zürich-Krimis" von Roland Suso Richter vortrefflich, zumal er wieder mit Max Knauer zusammengearbeitet hat, seinem bevorzugten Kameramann der letzten Jahre; ihre gemeinsamen Beiträge zur ARD-Reihe "Die Diplomatin" waren optisch ebenfalls ein Genuss. Richter ist ohnehin ein Bilderregisseur, Knauer ist ihm offenkundig ein kongenialer Partner.
Gerade die Innenaufnahmen mit ihrer Mischung aus Farbigkeit und Behaglichkeit sind große Kunst. Leider macht der Regisseur diesen guten Eindruck zunichte, weil er viele Momente aus unerfindlichen Gründen durch unnötige Stakkatoschnitte zerstückelt. Was in spannungsgeladenen Szenen wie etwa Julians Fluchtversuch plausibel ist, wirkt bei ruhigen Dialogen komplett unangebracht; hier vermittelt die hohe Schnittfrequenz nicht Dynamik, sondern bloß Hektik. Anders als die vielen Zeitsprünge, mit deren Hilfe Richter kurze Rückblenden wie kleine Enklaven in eine Dialogszene integriert, bergen die Schnitte zudem keinerlei Erkenntnisgewinn, sie mindern bloß das Sehvergnügen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die beiden Einschränkungen sind sehr bedauerlich. "Borchert und der verlorene Sohn", Richters neunter "Zürich-Krimi" (eine Wiederholung aus dem Jahr 2021), hat zwar nicht das Niveau des Hochspannungs-Thrillers "Borchert und die tödliche Falle" (2020), zumal die Handlungsebene mit dem ungeklärten Beziehungsstatus zwischen Furrer und Borcherts Kanzleipartnerin Dominique (Ina Paule Klink) wie ein Fremdkörper wirkt, ist jedoch im Vergleich zu anderen Donnerstagskrimis im "Ersten" von überdurchschnittlicher Qualität. Dazu trägt auch das Ensemble bei. Uwe Kockisch ist eine formidable Besetzung für die Rolle des Patriarchen, dem er eine interessante Ambivalenz verleiht: herzlich als Freund, streng als Vater, aber unnachgiebig, wenn’s um die Firma geht; deshalb ist Bildermann senior alles zuzutrauen. Natürlich ist der Film auch ein Familiendrama; es ist sicher kein Zufall, dass einige Einstellungen mit der versammelten Sippe wie eine systemische Aufstellung wirken.
Ein kleiner Coup ist den Verantwortlichen zudem mit Götz Otto gelungen: Borchert ist irgendwann überzeugt, dass Eric Meier hinter der Sache steckt, führende Milieufigur und Onkel eines der Entführer. Eigentlich ist die Rolle viel zu klein für einen derart prominenten Darsteller, aber es braucht einen Mimen seines Kalibers, damit ein Drehbuchsatz wie "Den Tod gibt’s nicht umsonst, mein Freund" nicht unfreiwillig komisch klingt.