Allerdings sind die "Nordrhein-Vandalen" nicht bei allen Einheimischen willkommen. Das bekommt in diesem heiteren "Friesland"-Film auch eine Landtagsabgeordnete zu spüren: Imke Claasen (Karolina Lodyga) setzt sich für eine höhere Ferienhausquote ein. Deshalb hat sich eine Bürgerinitiative gebildet, die ihren Unmut lautstark zum Ausdruck bringt. Tatsächlich bestehen mittlerweile ganze Orte größtenteils aus Unterkünften für Feriengäste. Natürlich bringen sie viel Geld in die nicht gerade mit Wohlstand gesegnete Region, aber wenn die Touristen im Herbst wieder abreisen, hinterlassen sie Geisterdörfer.
Als der Gründer der Bürgerinitiative, Enno Redenius, ermordet wird, fällt der Verdacht automatisch auf seinen Nachbarn Dirk Poppinga (Nic Romm). Die beiden Landwirte waren einander wegen eines tragischen Unglücks in innigem Hass verbunden, außerdem gab es ständig Streit um ein Wegerecht. Die Politikerin hat Poppinga eine Nutzung seiner Wiesen als Siedlung für "Tiny Houses" in Aussicht gestellt, aber der alte Redenius wollte die Zufahrt nicht erlauben. Für Kripochef Brockhorst (Felix Vörtler) ist der Fall klar, weshalb er den von Süher Özlügül (Sophie Dal) und Henk Cassens (Maxim Mehmet) festgenommenen Hamburger Architekten Lehmann (Alexander Wüst) gleich wieder freilässt. Aber bevor Redenius mit einer Hacke erschlagen wurde, hat er noch zwei Schüsse aus seiner Schrotflinte abgefeuert.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Lehmann hat nicht nur diverse Schrotkugeln im Bein; in seinem Kofferraum findet sich außerdem die Tatwaffe. Allerdings ist die Sache viel komplizierter, denn der Hieb mit dem Gartenwerkzeug war gar nicht die Todesursache. Angesichts der Blutwerte des Opfers beschleicht Melanie Harms (Tina Pfurr) eine furchtbare Ahnung: Die Mitarbeiterin von Apothekenbesitzerin Scherzinger (Theresa Underberg) setzt neuerdings auf pflanzliche Heilmethoden und hat das Medikament gegen die Herzprobleme des alten Mannes selbst zusammengestellt. Offenbar war der Digitalis-Anteil viel zu hoch; doch auch das ist nicht die Lösung dieses reizvoll verrätselten Falls.
In ihrem sehr gelungenen ersten "Friesland"-Drehbuch treiben Susanne Wagner und Hagen Moscherosch auf die Spitze, was den besonderen Reiz der Reihe ausmacht: Der cholerische Brockhorst ist noch cheffiger als sonst und überzeugt, dass Politikerin Claasen als Spinne im Netz die Fäden zieht, wie er in einer amüsanten Szene am Imbissstehtisch mit Hilfe diverser Utensilien und Ketchupfäden verdeutlicht. Tatsächlich gerät das Ermittlungstrio in ein "Schlangennest aus Filz und Korruption", wie sich schließlich rausstellt, als Brockhorst ausgerechnet von Claasens Mutter (Barbara Schnitzler) einen entscheidenden Hinweis und vom Assistenten (Rafael Gareisen) der Abgeordneten brisantes Material erhält. Geschickt spiegelt das Drehbuch das Thema des Films zudem auf privater Ebene: Sühers Bruder (Yunus Cumartpay) steht auf der Straße, weil sein Domizil zur Ferienwohnung wird, und Henk kriegt Ärger mit der Besitzerin seines Hausboots; die Frau hält seine wechselnden Bekanntschaften für Untermieterinnen.
Darüber hinaus erfreut "Landflucht" durch diverse Details am Rande. Dazu zählen auch die sympathischen Querverweise auf die Schwesterreihe "Wilsberg". Der entscheidendere Qualitätsaspekt ist jedoch die kluge Konstruktion des Drehbuchs, weil vermeintlich unwichtige Randaspekte am Ende noch mal wichtig werden. Sehr witzig ist auch ein Disput Brockhorsts mit seinem Navigationssystem und die lakonische Lösung von IT-Spezialistin Kim (Veronique Coubard). Dass die freche Kollegin nach ihrem erfrischenden Auftritt im letzten Film ("Artenvielfalt", 2023) wieder mitwirken darf, ist eine ausgesprochen gute Nachricht. Die achtzehnte "Friesland"-Episode markiert zudem eine Rückkehr: Dominic Müller, bei "Wilsberg" längst ein Qualitätsgarant, hat seinerzeit auch die ersten "Friesland"-Folgen (2014/14) und später den im Rahmen von "Wilsberg" ausgestrahlten ersten gemeinsamen Auftritt der beiden Ensembles inszeniert ("Morderney", 2018). Sein dritter Beitrag für die Reihe zeichnet sich nicht zuletzt durch eine sorgfältige Bildgestaltung aus: Der Regisseur und sein Kameramann Simon Schmejkal haben sich sichtbar darum bemüht, dem guten Drehbuch eine adäquate Verpackung zu geben. Auch dank der schönen Bilder dürfte die Reihe am florierenden Tourismus rund um Leer übrigens nicht ganz unschuldig sein.