Selbst wenn der Krimi stellenweise an den Bühnen- und Kinoklassiker "Ein Käfig voller Narren" (1978) erinnert, erzählt er von einer Heldenreise. Der Film beginnt mit einem umjubelten Auftritt: Die "Donauwelle" auf St. Pauli feiert Vivian Bernaise, bürgerlich Volker Weinreich (Axel Milberg).
Ein schüchterner Verehrer (Jacob Matschenz) bittet in der Garderobe um ein Autogramm. Kurz drauf gerät der junge Mann in ein Handgemenge, dabei löst sich ein Schuss. Die Täter gehören zur Mafia, Vivian muss als Mordzeugin umgehend von der Bildfläche verschwinden und findet in Gestalt ihres Alter Egos Unterschlupf bei einer Lehrerin.
Clever überträgt das Drehbuch das mutmaßliche Befremden zumindest von Teilen des ARD-Stammpublikums auf die zweite Hauptfigur. Szenestars wie Olivia Jones sind regelmäßige Talkshowgäste, aber die Vorstellung, mit einem derartigen Paradiesvogel unter einem Dach zu leben, dürften viele Menschen als "queer" (verdreht, verquer) empfinden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Katja (Kim Riedle), Volkers Vermieterin, geht es nicht anders, weshalb sie erst mal nachschaut, was eine Dragqueen überhaupt ist: "meistens ein Mann, der humoristisch und überhöht das Verhalten von Frauen imitiert und sich entsprechend kleidet". Prompt trifft Vorurteil auf Vorurteil: Katja will den absonderlichen Untermieter wieder loswerden, Volker hält sie für eine "verspießerte Vorstadtmutti" und die Kleinstadt für den "Vorhof zur Spießerhölle".
Beide machen jedoch alsbald eine geistige Kehrtwende: er, als sich rausstellt, dass die Mafia ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hat, und sie, weil sie sich in eine ausweglose Lage manövriert hat. Ehemann und Schulrektor David (Helgi Schmid) hat sie zugunsten einer Referendarin (Anja Antonowicz) verlassen. Um beiden eins auszuwischen, hat Katja, Erdkundelehrerin und in musikalischen Dingen weitgehend unbewandert, ihrer Konkurrentin die Leitung der Musical AG entrissen. Volker ist zur rechten Zeit in ihr Leben getreten, und das nicht nur in Bezug auf das Musical: Ihr zehnjähriger Sohn Lukas (Bruno Thiel) wird von älteren Mitschülern gemobbt. Dank Volker blühen Mutter und Sohn regelrecht auf: Er hilft ihnen, jenen Teil ihres Selbst auszuleben, der verloren gegangen ist (Katja) oder sich nicht an die Oberfläche traut (Lukas).
Wie beim Modell der Heldenreise konfrontieren Julia Penner und Andreas Wrosch die Hauptfiguren ihres ersten gemeinsamen Drehbuchs mit verschiedenen Bewährungsproben, die sie mit Bravour bestehen; Katja zum Beispiel muss Volkers Engagement nicht nur gegen David, sondern auch gegen die Eltern verteidigen. In einer Schlüsselszene besucht sie gemeinsam mit Volker die "Donauwelle", gerät unversehens mit bekleckerter Bluse ins Scheinwerferlicht und macht das Beste draus, indem sie sich zur "Königin des Ausnahmezustands" erklärt. Volker wiederum erobert die Herzen der AG-Mitglieder, als er ihnen mit Hilfe von Chers "Shoop Shoop Song" den besonderen Reiz eines "Lipsync"-Auftritts vorführt. Unterschwellig lauert aber weiterhin die latente Bedrohung durch die Gangster, weshalb die Komödie schließlich zum Thriller wird.
Der Abwechslungsreichtum der Handlung ist ebenso beeindruckend wie die Inszenierung (Piotr J. Lewandowski). Eine besondere Attraktion sind natürlich die Darbietungen in der "Donauwelle", zumal es sich bei den kostümierten Komparsen ausnahmslos um echte Dragqueens handelt. Bei Vivians Auftritt hatte das Publikum keine Ahnung, wer da auf der Bühne sein Varieté-Debüt gab; die Begeisterung ist nicht gespielt. Milbergs Leistung ist ohnehin mehr als bemerkenswert, und das nicht nur, weil er gelernt hat, sich vergleichsweise grazil auf Highheels zu bewegen. Die eigentliche Herausforderung bestand darin, die Figur nicht zur Parodie werden zu lassen.
Vivians Motto "Mehr ist mehr" gilt nur für die Bühne. Die Rolle sollte tunlichst nicht an den Klamauk aus "Charlys Tante" oder "Manche mögen’s heiß" erinnern, also keine Verkleidung sein, sondern eine eigenständige Persönlichkeit. Weit mehr als bloß eine Erwähnung wert ist daher die Arbeit von Oliver Hildebrandt (Maskenbild), der für die perfekte äußerliche Verwandlung sorgte. Bei aller Heiterkeit ist der Film auch ein Plädoyer für gesellschaftliche Vielfalt. Wie die Wirklichkeit aussieht, fasst Volker in einem Satz zusammen: "Menschen wie ich sind Freiwild."