Wir schreiben das Jahr 2011 und ich bin in meinem dritten Amtsjahr als Pfarrer einer mittelgroßen lutherischen Kirche in einem Vorort von New York City. Ich sitze im church council meeting, also in der Gemeinderatssitzung. Es geht um das kommende Budget, die Haushaltungsplanung. Die Lehman-Krise hat gerade zugeschlagen und da amerikanische Kirchengemeinden sich ausschließlich über Spenden finanzieren und unsere Mitglieder in kurzer Zeit reihenweise arbeitslos geworden sind, blicken wir einer schwierigen finanziellen Lage entgegen.
Ohne Mathegenie zu sein, habe ich vor der Sitzung die aktuellen Zahlen überflogen. Das sieht nicht gut aus. Die Spenden zu den Gottesdiensten sind dramatisch eingebrochen. Darüber hinaus wurden die Rücklagen der Kirchengemeinde durch den Börsencrash erheblich geschmälert.
Haiko Behrens ist Pfarrer und Synodalrat der Reformierten Kirche Kanton Solothurn in der Schweiz. Er begegnet seinen interkulturellen Erfahrungen in der weltweiten Kirche gern mit viel Witz und satirischem Humor.
Was bedeutet Mission heute? Das ist nicht leicht zu beantworten. Doch mission.de will genau das. Hier kommen Menschen zu Wort, die weltweit in Mission und Ökumene vernetzt und zuhause sind und etwas zu sagen haben. Ein Blog gibt Raum für pointierte Meinungen, aktuelle Themen und Beiträge zu laufenden Diskursen. mission.de ist eine Initiative evangelischer Missionswerke, Verbände und Kirchen unter dem Dach der Evangelischen Mission Weltweit (EMW).
So habe ich mir eine kleine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede mit Kürzungsvorschlägen zurechtgelegt und eine entsprechende Tabelle mit den wichtigsten Zahlen vorbereitet. Würde der Ernst der Lage erkannt? Wie würde die Debatte verlaufen? Auf was könnten wir verzichten? Nothing is off the table. Nichts kann ausgeschlossen werden. Die Kürzungen können alles treffen.
Auf was könnten wir verzichten?
Und so spreche ich das Eröffnungsgebet und will schon mit den "bad news", den schlechten Nachrichten, loslegen, da greift meine Präsidentin das Papier mit den tiefroten Zahlenkolonnen, überfliegt es und greift mich sanft am Ärmel. "Let me do it, pastor!", ("Pastor, lass mich das tun",) raunt sie mir zu. Dann steht sie auf und hebt mit strahlendem Gesicht zu sprechen an: "Wir sind eine großartige Kirchengemeinde! Wir sind in Gottes Hand!" – Alle nicken. "Und weil wir so großartig sind, können wir von unserer Großartigkeit zehren. Denn Gott macht uns großartig!" – Yeah-Rufe.
"Und weil wir gottgegeben so großartig sind, gibt es für uns keine Schwierigkeit, die für uns zu schwer ist. Kein Hindernis, das wir nicht überwinden können."
– Allgemeiner Jubel: "Yeah! Absolutely!" (Ja, absolut!); "No limits!" (Keine Grenzen!); "We can do it!" (Wir schaffen das!) – Die Leute rufen und klatschen begeistert.
Keine Schwierigkeit ist zu schwer. Die Präsidentin nickt mir befriedigt zu. Doch ich blicke entgeistert abwechselnd in die strahlenden Gesichter und auf die tiefroten Zahlenkolonnen in den Händen meiner Präsidentin. Wo soll das hinführen? Wir stehen kurz vor der Pleite und man klatscht und jubelt! Verstehe ich nicht. Doch die Präsidentin macht unverdrossen weiter: "Geld ist nicht alles!", ruft sie mit blitzenden Augen. – "Genau!" erschallt es frohgemut. "Und so werden wir jetzt auch mit weniger Geld auskommen können. Gott ist bei uns! "Yes, we can, praise be to God!" (Ja, wir schaffen das, preist den Herrn!)
Ja, wir sind Familie
Dann nimmt sie sich die Zahlenkolonnen vor: "Wir brauchen nicht mehr so viel Papier zu kaufen! Wir können die Gemeindebriefe bei uns zuhause ausdrucken.
– We share the burden!" (Wir teilen die Last!); "Yes, we share!", (Ja, wir teilen), schallt es laut und klar. "Wir brauchen im Winter nicht die riesige Kirche zu heizen! Wir können auch im Gemeindehaus Gottesdienst feiern! Das ist sowieso viel persönlicher, denn Advent ist ja ein Familienfest." – "Yeah! We are family!", (Ja, wir sind Familie!).
Und so geht es weiter. Jeder Punkt des Kürzungsplans wird in etwa so bejubelt wie ein Tor in einem Fußballspiel. Schließlich endet die Sitzung mit der englischen Version von "Nun danket alle Gott". In gelöster Atmosphäre verabschiedet man sich in die kalte Nacht.
Manchmal muss man um das Thema herumtanzen. Die Präsidentin und ich bleiben zurück. Wir haben alle Kürzungen durchgekriegt. Doch während ich brutal ehrlich, mit einer Stimme die Unheil verheißt, den Ernst der Situation zu beschreiben gedachte, drehte sie die Thematik ins Positive. Sie strich die Stärken der Kirchgemeinde und ihre Ressourcen hervor, die wir jenseits des finanziellen Rahmens nutzen konnten.
Das Ziel ist erreicht. Ohne bitteren Beigeschmack.
"That was great", (Das war großartig), bemerke ich anerkennend und schüttle meiner Präsidentin die Hand. Sie lächelt. "Sometimes, you gotta dance around the subject. Get folks swinging. Then they’re on the move, they feel good and are with you." (Manchmal muss man um das Thema herumtanzen, die Leute in Schwung bringen. Und wenn sie dann in Bewegung sind, fühlen sie sich gut, und stimmen dir zu.)
"Du glaubst aber schon, dass die Zeiten ernst sind?", frage ich sie.
"Sie sind ernst. Doch Gott ist bei uns. "Have some faith, pastor!", (Habe etwas Vertrauen, Pastor,) sagt sie, umarmt mich und geht. Auch ich gehe nach Hause und pfeife das Lied "Lord of the Dance".
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