Im Alter schließt sich der Kreis: Ereignisse aus den letzten Jahren beginnen zu verblassen, doch die Bilder aus der Kindheit werden zunehmend präsenter; erst recht, wenn die Erlebnisse Eindrücke hinterlassen haben, die einem Trauma gleichkommen. Die Männer und Frauen, mit denen Jan N. Lorenzen über den Zweiten Weltkrieg und die Jahre danach gesprochen hat, sind allesamt über achtzig, aber ihre Erinnerungen sind so lebendig, als wäre es gestern gewesen. Was ihnen damals widerfahren ist, war teilweise so grausam, dass sie zum Teil bis heute keine Worte dafür finden, zumal sie als Kinder oft nicht begriffen haben, was passiert. Sie stammen allesamt aus jenen Gebieten, die heute zu Polen, zur Tschechischen Republik oder zur Ukraine gehören, sie alle haben Flucht und Vertreibung erlebt. Die Wahrheit, heißt es, sei das erste Opfer des Krieges; die Kinder sind die letzten Opfer.
Lorenzen ist ein Spezialist für historische Stoffe; zuletzt hat er unter anderem aus über hundert Stunden farbiger Amateuraufnahmen den ARD-Mehrteiler "Im Land der Täter" (2019) montiert. Für seinen neunzigminütigen Dokumentarfilm "Kinder der Flucht", den das "Erste" in der Mediathek auch als vierteilige Dokumentation anbietet, hat er mit mehreren Betroffenen gesprochen, deren Schilderungen bewusst karg präsentiert werden: Sie sitzen in einem ansonsten dunklen Raum; am Bildrand ist der Regisseur zu erahnen, der gelegentlich Fragen stellt. Der unter anderem von Ulrike Kriener sehr angenehm gesprochene Kommentar sorgt für die durch Archivmaterial illustrierten nötigen Hintergrundinformationen. Ansonsten konzentriert sich Lorenzen konsequent auf die Berichte der alten Herrschaften, die in Ruhe ausreden dürfen. Das mag filmisch wenig reizvoll klingen, doch die radikale Reduktion sorgt dafür, dass die Erzählungen umso nachhaltiger wirken.
Die Schilderungen sind ausnahmslos bewegend; und zum Teil mehr als das. Johanna zum Beispiel war zehn, als im Herbst 1944 ihre Flucht aus dem damaligen Ostpreußen begann. Anfangs erschien ihr die Reise über die Ostsee wie ein Abenteuer, zumal sie es "ganz schön" fand, dass sie nicht mehr zu Schule musste. Auf dem Schiff wurde sie Zeugin, wie eine Frau ihre Kinder über die Reling warf und anschließend selbst in den sicheren Tod sprang. Später ist die Familie in Danzig gestrandet. Am 7. März 1945 wurde die Stadt von der Roten Armee eingenommen. Was sich dann ereignete, gehört zu den dunklen Geheimnissen der Familie. Die Kinder mussten ihrer Mutter versprechen, nie darüber zu reden; Johanna kann es bis heute nicht. Das tut dafür Ursula. Sie war neun, als die Rote Armee in Königsberg einmarschierte. Aus heutiger Sicht weiß sie, dass die massenhaften Vergewaltigungen auch eine Kriegswaffe waren: "Demütigung, Erniedrigung, Abschreckung". Sie habe lange Zeit "alles gehasst, was männlich war." Viele Frauen wurden infolge der Vergewaltigungen schwanger; auch Johannas Mutter. Einige Frauen, berichtet sie, hätten die Säuglinge einfach weggeworfen; sie erinnert sich an ein Baby auf einem Misthaufen.
Immerhin haben die alten Herrschaften auch positive Erfahrungen gemacht. Kurt lebte im Sudetenland und entkam dem Tod nur durch einen glücklichen Zufall: Als die deutschen Einwohner zusammengetrieben wurden, stellte er sich als damals Dreizehnjähriger wie befohlen zu den Erwachsenen. Ein mitfühlender Tscheche wies ihn an, sich bei den Kindern einzureihen; die Männer wurden allesamt ermordet. Ursula, den Hungertod vor Augen, kletterte kurzerhand auf einen Güterzug, wo ein Russe sie versteckte. Im litauischen Kaunas wurde sie von einer Familie aufgenommen und wieder aufgepäppelt. Bei ihrer Rückkehr nach Königsberg erfuhr sie, dass ihre Geschwister verhungert waren. Später lebte sie als eins von rund 20.000 Wolfskindern in Polen, Litauen und der Sowjetunion irgendwo im Wald.
Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind allesamt gut ausgewählt, weil sie lebendig und anschaulich erzählen; viele zumindest in der Öffentlichkeit zum ersten Mal. Einige haben eine neue Heimat gefunden, andere haben sich innerlich nie von der alten lösen können. Lorenzen hat ohnehin darauf geachtet, dass sich die Berichte ergänzen und auf diese Weise zu einem Gesamtbild zusammenfügen, weil die einzelnen Schicksale prototypisch sind. Deshalb geht es auch nicht nur um die deutsche Sicht der Dinge. Stets wird darauf hingewiesen, welche Gräueltaten zuvor die Wehrmacht begangen hat.
Und dann ist da noch Alodia. Die Tochter eines 1943 hingerichteten polnischen Widerstandskämpfers ist als Sechsjährige nach Deutschland in ein Lebensborn-Heim verschleppt worden. Mit ihren blonden Haaren und den blauen Augen sollte sie dazu beitragen, die "nordische Rasse" zu retten. Sie wurde adoptiert, hieß nun Alice und verbrachte die nächsten Jahre in Stendal. Als sie Jahre später wieder zu ihrer leiblichen Mutter zurückkehren musste, war die eine Fremde für sie. Auf wunderbare Weise wurden die beiden Frauen Freundinnen; Alodia hatte fortan eine "Mutti" und eine "Mama". Für ihren Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung ist sie mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt worden.