epd: Welchen Wert hat es für Sie, in der "Sesamstraße" mitspielen zu dürfen?
Julia Stinshoff: Als ich die Rolle angeboten bekam, war mein erster Gedanke: "Meine Güte, das ist ja totaler Kult! Und ich darf Teil dieser Institution werden!" Je länger ich dann dort arbeitete, desto mehr wurde mir klar, was für einen wichtigen Bildungsauftrag die "Sesamstraße" hat und wie wichtig sie für die Entwicklung von Kindern und auch deren Eltern ist. Die Sendung steht für ein sehr diverses Angebot an Denkansätzen. Als Mutter zweier zehnjähriger Mädchen bin ich natürlich auch ganz persönlich daran interessiert, dass wir Erwachsenen gute Samen bei unseren Kindern setzen.
Was vermittelt die "Sesamstraße" denn für Denkansätze?
Julia Stinshoff: Sie steht vor allem für Toleranz, die ersten in Deutschland gezeigten Folgen spielten noch im gesellschaftlich etwas abgehängten Brooklyn. Es wirkten farbige Schauspieler mit, es gab kontroverse Figuren wie den griesgrämigen Oskar aus der Mülltonne. Ich fand die Sendung schon damals sehr mutig und sehe, dass sie heute diesen Weg anders weitergeht, beispielsweise wird in Deutschland gerade eine Figur eingeführt, die im Rollstuhl sitzt. Diversität und Inklusion sind präsent. Die "Sesamstraße" zeigt: Lebewesen sind unterschiedlich und das ist gut so.
Wie fühlt es sich an, an der Seite von Puppen zu schauspielern?
Julia Stinshoff: Ich nehme die Puppen genauso ernst wie Menschen. Dabei bedienen sie das Kindchenschema auf eine liebevolle Art und Weise, dass es einem das Herz öffnet. Wenn Elmo mich mit seinen großen Augen anschaut und er mich mit seiner hellen Stimme naiv etwas fragt, dann könnte ich es niemals übers Herz bringen zu sagen: "Nerv mich jetzt nicht, ich hab' gerade was anderes zu tun."
Welches sind Elmos Hauptcharakterzüge?
"Öffne dich, zeige dich! Es ist nicht schlimm, wenn du unsicher bist, Fragen hast oder dich nicht vollkommen fühlst."
Julia Stinshoff: Er ist sehr neugierig, lieb und herzenswarm, will niemandem etwas Böses. Dabei zeigt er auch Vulnerabilität. Nie versteckt er seine Unsicherheiten. Damit öffnet er sich und macht sich verwundbar. Meine Aufgabe ist es dann, einen Umgang damit zu finden und das für Kinder, die sich mit Elmo identifizieren, zu transportieren. Elmo regt sein junges Publikum auf diese Art dazu an, ins Gespräch mit anderen zu gehen. Er gibt ihnen zu verstehen: "Öffne dich, zeige dich! Es ist nicht schlimm, wenn du unsicher bist, Fragen hast oder dich nicht vollkommen fühlst."
Und welches sind die Hauptcharakterzüge von Schaf Wolle und dessen Freund Pferd?
Julia Stinshoff: Pferd ist sprichwörtlich nicht die hellste Kerze auf dem Kuchen. Er ist außerdem tollpatschig, aber absolut liebenswert. Wolle ist etwas klüger und schneller. Diese Unterschiedlichkeit macht die Freundschaft der beiden so wundervoll, auch weil sie Kindern zeigt: Du musst nicht gleich sein, sondern man kann sich in seiner Unterschiedlichkeit gut ergänzen.
Wie gehen Elmo, Wolle und Pferd mit Konflikten um?
Julia Stinshoff: Sie besprechen sich - Wolle und Pferd tun das oft untereinander, Elmo häufig mit mir. Dabei können sie ihre Probleme gut benennen. Sie versuchen zunächst, selbst klarzukommen und wenn sie dabei nicht weiterkommen, dann bitten sie einen Erwachsenen um Hilfe. Eben so, wie Eltern es ihren Kindern vermitteln: "Guckt erstmal selbst, wie weit ihr kommt - und wenn ihr Hilfe braucht, dann geben wir Erwachsenen euch Werkzeuge an die Hand."
Sie sind damals noch mit anderen Figuren aufgewachsen - welche waren das?
Julia Stinshoff: Ich wuchs die ersten Jahre in den Vereinigten Staaten auf, da gab es in der "Sesame Street" Oskar. Den fand ich super, weil er so schnodderig war. Als ich sechs Jahre alt war, zogen wir nach Deutschland. Dort mochte ich Samson am liebsten, den großen, gutmütigen Bären.
In Deutschland gab es zu jener Zeit drei TV-Programme und nur wenige Kindersendungen. Heute gibt es Hunderte Sender und noch dazu das Internet - welchen Stellenwert hat die "Sesamstraße" da überhaupt noch?
Julia Stinshoff: Es gibt auch heute noch sehr viele Kinder und Erwachsene, die die "Sesamstraße" gucken. Indem Puppen zum Einsatz kommen, hinterlässt die Sendung meines Erachtens einen größeren Eindruck bei Kindern, als wenn ausschließlich Zeichentrickszenen gezeigt würden. Und dank Internet ist die "Sesamstraße" heutzutage zu jeder beliebigen Uhrzeit abrufbar.
Wie beurteilen Sie die Gesamtentwicklung des deutschen Kinderfernsehmarktes?
Julia Stinshoff: Ich bin entsetzt, wie überzeichnet und überladen manche Kindersendungen inzwischen sind. Vieles ist zu extrem und führt bei Kindern langfristig, glaube ich, eher zu Abstumpfung als zu Sensibilität. Meine Kinder schauten, als sie kleiner waren, zum Glück eher harmlose Sachen. Falls sie doch mal etwas anderes sahen, bekamen sie Angst und wollten das nicht weiter gucken. Und auch heutzutage haben sie ein ziemlich gutes Gespür dafür, was ihnen gut tut und was nicht.
Reglementieren Sie den TV- und Smartphone-Konsum Ihrer Kinder?
Julia Stinshoff: Den TV-Konsum begrenze ich, aber nicht starr. Meine Zwillinge gucken nicht jeden Tag fern. Am Wochenende versuchen wir etwas zu finden, was wir uns gemeinsam anschauen. An ihren Smartphones ist die App-Nutzung auf eine halbe Stunde limitiert. Sie können aber zu jeder Zeit telefonieren.