Mila Köhler (Name geändert) versteht bis heute nicht, wieso weggesehen wurde, als ihre Mutter sie Jahre lang misshandelt hat. "Niemand hätte gedacht, dass die kleine, charmante Frau so aggressiv sein kann. Meine Mutter wurde von jedem gemocht", erinnert sich Köhler.
Die heute 32-jährige Tochter aus dem Ostalbkreis, die anonym bleiben möchte, erinnert sich: "Ich war sieben Jahre alt, als meine Mutter sich von meinem Vater scheiden ließ." Ihre Mutter zog mit ihrem neuen Lebensgefährten von Bayern nach Ostholstein. Dort habe der Psychoterror begonnen. "Ich war nur da, um Frust abzulassen", sagt sie. Sie wurde geschlagen und gedemütigt. "Das Leben bestand aus Hausarrest, Umzügen und Mobbing in der Schule."
Im Alter von neun Jahren wollte sie sich zum ersten Mal das Leben nehmen. "Zu diesem Zeitpunkt fing auch meine Borderline-Persönlichkeitsstörung an." Ein aktueller Arztbericht über die psychosomatischen Diagnosen der jungen Frau sowie ihr richtiger Name liegen der Redaktion vor.
Im Jahr 2020 gab es laut Bundeskriminalamt nachweislich fast 5.000 Opfer von Kindesmisshandlung in Deutschland. Die Dunkelziffer liegt weitaus höher.
Tagelang nichts zu essen bekommen
Zu den psychischen Misshandlungen kamen bei Mila Köhler Essensstrafen. "Manchmal durfte ich mehrere Tage lang nichts essen", sagt sie. Wenn ihre Mutter mit ihrem Freund wegfuhr, habe sie sogar die Türklinke von der Küchentür entfernt.
Im Alter von 19 Jahren entwickelte sie eine Binge-Eating-Störung und erreichte mit ihrem übermäßigen Essen ein Gewicht von 125 Kilogramm. Doch es blieb nicht bei Essensstrafen. "Ich erfuhr Körperverletzungen und Missbrauch."
Der Kassler Diplom-Psychologe Klaus Ritter ist Experte auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychotherapie. Fälle wie die von Köhler sind für ihn keine Seltenheit. "Psychische und körperliche Misshandlung haben schwerwiegende Auswirkungen auf die weitere Lebensführung", sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd) und erklärt weiter: "Die Erfahrung zeigt: Das Risiko für die Entwicklung von psychischen Störungen ist um ein Vielfaches höher als bei normal entwickelten Kindern."
Das liege an der unsicheren Bindungsstruktur des Kindes. Konkret bedeutet das: "Es fällt ihm häufig schwer, beständige und vertrauensvolle Bindungen einzugehen." Enttäuschungen und Konflikte könnten nicht ausreichend bewältigt werden. Das drücke sich häufig in Suchterkrankungen, Persönlichkeits- und Essstörungen aus.
Mila Köhler berichtet, ihre Großmutter, der sie sich anvertraut habe, habe mehrmals das Jugendamt kontaktiert, damit es ihrer Tochter Einhalt gebietet. Ohne Erfolg. "Wenn die Mitarbeiter des Jugendamts kamen, suchte meine Mutter ihr bestes Geschirr heraus. Mich schminkte sie und machte mir meine Haare", sagt die 32-Jährige. Zudem sei ihr gedroht worden. "Sie sagte mir: Wenn ich mich nicht vorbildlich benehme, würden sie mich mitnehmen und ins Heim schicken, wo ich von Kinderhändlern abgeholt werde."
Nach vertraulichem Gespräch der Lüge bezichtigt
Das Jugendamt habe sich blenden lassen. "Sie haben nie das Gespräch mit mir allein gesucht", kritisiert Köhler. In den Berichten hieß es, von ihrer Mutter gehe keine Gefahr aus. Das Kind habe es gut.
Als Jugendliche, berichtet Köhler, habe sie sich der Mutter einer Freundin anvertraut. "Sie ging zu meiner Mutter und suchte das Gespräch." Danach habe sie ihr mitgeteilt, dass sie mit meiner Mutter gesprochen habe und nun denke, dass ich lüge.
Für Ritter ein weiteres Problem. "Das Gefühl, mit den eigenen Beschwerden in der Kindheit nicht ernst genommen zu werden, kann zu einer Verstärkung der psychischen Probleme im Erwachsenenalter beitragen", sagt er. Besonders emotionaler Missbrauch, der ohne äußere Gewalt auftrete, werde von Fachkräften oder Bezugspersonen des Kindes häufig nicht erkannt.
Als sie mal wieder heftige Prügel bezog, "ging ich wie auf Autopilot in mein Zimmer und legte mich ins Bett", sagt Mila Köhler. In ihren Ohren hallte der Bericht des Jugendamts wider, in dem es hieß, von ihrer Mutter gehe keine Gefahr aus.