Acht Seiten lang ist der Brief, der am 20. April 1998 in Chemnitz bei der Nachrichtenagentur Reuters eingeht. Am Fuß der letzten Seite prangt groß die berüchtigte Maschinenpistole mit dem Stern im Hintergrund und dem Schriftzug "RAF". Im Text ist zu lesen: "Heute beenden wir dieses Projekt." Nach 28 Jahren mit 34 Morden, mit Bombenattentaten, Geiselnahmen und Banküberfällen ist die Terrororganisation "Rote Armee Fraktion" Geschichte.
"Den Mitgliedern der RAF ist einerseits klar, dass sie nicht mehr weitermachen können", erklärt der Hamburger Politologe und RAF-Kenner Wolfgang Kraushaar die Motive der Terrorist:innen für ihr Schreiben vor 25 Jahren. "Andererseits wollen sie sich rechtfertigen, indem sie sagen, dass die Existenz der RAF ihre Berechtigung hatte." Tatsächlich steht in dem Brief, es sei ein Fehler gewesen, "neben der illegalen, bewaffneten keine politisch-soziale Organisation" aufgebaut zu haben. Der Terror selbst steht hingegen nicht infrage.
Es ist auch die Geschichtsvergessenheit des Datums, das den Ex-Chef des Bundeskriminalamts, Horst Herold, empört. Der 20. April, Hitlers Geburtstag. "An einem solchen Tag löst sich eine RAF, wie ich sie kenne, nicht auf", sagt er. Eine "Rote Armee Fraktion", die besonders im "Deutschen Herbst" 1977 mit ihrem Terror die Republik erschüttert hatte. Damals ermordete sie den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, den Bankier Jürgen Ponto und den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer.
Das Ende der linksterroristischen Vereinigung hatte sich schon länger angebahnt. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts entfielen Logistik, Waffenausbildungs- und Rückzugsmöglichkeiten, die die östlichen Geheimdienste den Terroristen zur Verfügung gestellt hatten, auch durch Verbindungen zu arabischen Geheimdiensten und Terrorgruppen. Nach dem Ende der DDR flogen viele ehemalige RAF-Mitglieder auf, die im Osten untergetaucht waren. Der RAF-Häftling Karl-Heinz Dellwo verfasste daraufhin ein Papier, in dem er die RAF kritisierte - bis dahin war das undenkbar gewesen.
Im Januar 1992 deutete Klaus Kinkel (FDP), damals Bundesjustizminister, an, der Staat sei zur Versöhnung bereit, "wo es angebracht sei". Im Jahr darauf kamen neun inhaftierte RAF-Mitglieder vorzeitig frei. Zuvor, im April 1992, hatte die RAF erklärt, dass sie keinen "Angriff auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat" mehr unternehmen werde.
"Das bedeutete nicht, dass die RAF auf Gewalt verzichtete", erläutert Kraushaar. "Es hieß lediglich, dass sie keine Menschen mehr umbringen würde." Ihren letzten Terrorakt verübte die RAF am 27. März 1993, einen Sprengstoffanschlag auf das leere, neu gebaute Gefängnis im hessischen Weiterstadt.
"Die hatten überhaupt keine politische Strategie mehr, kein Ziel", beschreibt Kraushaar den inneren Zustand der RAF, "die sind ganz auf sich selbst zurückgefallen". Er nenne das "autistisch". Es sei der RAF nur noch darum gegangen, inhaftierte Mitglieder freizupressen, und zwar bereits sehr früh, nämlich ab Ende der 1970er Jahre. Im Mai 1997 habe es in Zürich ein Treffen verbliebener RAF-Leute gegeben. Dabei seien sie zu dem Schluss gekommen, es ergebe keinen Sinn mehr, weiterzumachen.
Einblicke in das Innenleben der RAF hat Kraushaar seinen Worten zufolge unter anderem von Dellwo selbst. Dellwo habe nach seiner Haftentlassung für einige Zeit an seinem Hamburger Institut mitgearbeitet, sagt Kraushaar. Bislang sei das nicht öffentlich bekannt gewesen. "Er hat nie zugegeben, dass er zu den Verfassern des Auflösungsschreibens gehört", berichtet Kraushaar, "ich bin mir aber sehr sicher, dass er dabei war". Die meisten ehemaligen RAF-Mitglieder schweigen bis heute über ihre Zeit im Untergrund.
Auch in dem Auflösungsschreiben vom 20. April 1998 sieht Kraushaar Anzeichen für die Selbstbezogenheit der Terrorgruppe, vor allem in deren Umgang mit den Opfern - oder besser: deren Nicht-Umgang. "Sie gedenken in dem Brief ihrer eigenen getöteten Mitglieder und listen sie auf, aber all die anderen Menschen, die durch den Terror umgekommen sind, die sie ermordet haben, kommen in dem Brief gar nicht vor", sagt der Politologe. Das sei es, was er mit "autistisch" meine.
Nach drei ehemaligen RAF-Mitgliedern wird bis heute gefahndet: Ernst-Volker Staub, Daniela Klette und Burkhard Garweg. Bis heute verübt das Trio von Zeit zu Zeit Raubüberfälle, überwiegend in Norddeutschland. Das mit dem Fall befasste Landeskriminalamt Niedersachsen gehe davon aus, dass sich die drei unter falschen Namen verborgen halten, möglicherweise im Ausland, sagt dessen Sprecherin Antje Heilmann: "Die Fahndung nach den Gesuchten wird weltweit betrieben."
Wahrscheinlich dienen die Überfälle aber lediglich dazu, Geld für das Leben im Untergrund zu beschaffen. "Hinweise, dass die Überfälle einen terroristischen Hintergrund haben sollen, liegen nach Prüfung der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe nicht vor", erklärt Heilmann.