"Über häusliche Gewalt wird kaum gesprochen. Anders als über Themen wie Drogen oder AIDS lernt man dazu auch nichts in der Schule", sagt Michael. Er war rund zehn Jahre lang selbst davon betroffen und hat Kontakte zu anderen Opfern. Als Mann musste er mehrfach die Erfahrung machen, dass er mit seinem Problem nicht ernst genommen wurde.
"Deine Freundin braucht Hilfe, du solltest dich mehr um sie kümmern", meinten Freunde. "Es entspricht nicht dem Naturell einer Frau, so auszurasten. Das muss an dir liegen", sagte ihm sogar ein Sozialarbeiter.
Der Fachbereich Gewaltprävention des Vereins Sozialberatung Stuttgart startete 2002 mit Täterberatung bei häuslicher Gewalt. Eine gezielte Arbeit mit Täterinnen kam Anfang 2005 dazu. "Es war uns sehr schnell klar, dass Männer auch häusliche Gewalt erleben und einen Beratungs- und Unterstützungsbedarf haben", sagen Edith Hasl und Maxim Schelkle.
Als Sozialpädagog:innen beraten und betreuen sie inzwischen jährlich etwa 90 männliche Hilfesuchende - manche einmalig, andere regelmäßig über einen Zeitraum von über einem Jahr. Das Angebot entstand erst 2014, vier Jahre später wurde es um eine Schutzwohnung mit zwei Plätzen für Männer ergänzt. 2021 kam die Beteiligung Baden-Württembergs am bundesweiten Männerhilfetelefon, das auch Chatberatung anbietet, dazu.
Es trifft Männer jeden Alters
Von häuslicher Gewalt betroffen seien Männer aller Altersgruppen und Berufssparten, erzählen Hasl und Schelkle. "Die Männer, die wir beraten, sind zwischen 19 und 83 Jahre alt. Die wenigsten sind arbeitslos." Oft entstehe ein Erstkontakt über das niedrigschwellige Angebot des Männerhilfetelefons, das auch anonym genutzt werden kann. "In erster Linie kommen die Männer von sich aus, manchmal werden sie durch einen unserer Kooperationsdienste vermittelt, Gesundheits- oder Jugendamt, Krisennotfalldienst oder Weißer Ring beispielsweise."
Laut Polizeistatistik sind rund 20 Prozent der Opfer von Partnergewalt Männer. "Gewalt ist keine Frage der Körperstatur", weiß Edith Hasl. Auch kleine Frauen, deren Kräfte deutlich geringer seien als die ihres Partners, übten neben psychischer auch physische Gewalt aus - manchmal mithilfe von Gegenständen oder auch mit Bissen.
Plötzliche Ausraster
Michaels Beziehung begann sehr vielversprechend. Martina war hübsch, intelligent, empathisch und allseits beliebt. Dass die beiden ziemlich schnell ziemlich viel zusammen machten, sah Michael damals unkritisch. "Ich war als Jugendlicher eher sorglos und locker", sagt der Ingenieur.
Bald kam noch eine andere Seite seiner Freundin zum Vorschein. Sie tickte emotional immer wieder aus, war schnell aufgeregt, traurig, wütend, schien verzweifelt. Manchmal schrie sie Michael an. Er versuchte zu beschwichtigen, zu trösten. Schließlich konnte er ja manchen Ärger auch nachvollziehen.
Verantwortungsgefühl bleibt
Die beiden lebten in einer Wohngemeinschaft in Berlin und arbeiteten in der gleichen Firma. Martina hatte inzwischen viele frühere Kontakte beendet und einen Keil in Michaels Freundeskreis getrieben. "Es gab keine Trennung zwischen ihrem und meinem Leben mehr", stellt Michael rückblickend fest.
Allmählich richteten sich Martinas Aggressionen mehr gegen ihren Freund. Sie riss die Kühlschranktür auf und schüttete sauer gewordene Milch in Michaels Rucksack und in seine Schuhe. "Ich war zunächst wie erstarrt", sagt Michael. Hinterher entschuldigte sie sich. Die Mitbewohner hatten bald genug von Martinas Allüren und zogen aus. Er blieb. Ein zerbrochener Spiegel, der gegen die Wand geworfene Teller, das wütende Kratzen ins Leere - all das schienen Ausnahmesituationen zu sein.
Er fühlte sich immer noch verantwortlich für seine Freundin, während andere Kontakte immer weniger wurden. Dass sie seinen Nachrichteneingang kontrollierte, geschah zunächst unter dem Vorwand, ihm zu helfen. Dass sie das Konto kontrollierte, lag daran, dass sie die Sparsamere war.
Flucht in die Schutzwohnung
Als die Gewalt in der Mietwohnung hemmungsloser wurde, versuchte Michael nur noch, Schadensbegrenzung zu betreiben: "Ich hatte Angst, dass wir die Wohnung verlieren." Dem Vorwurf, unordentlich zu sein, begegnete er, indem er große Sorgfalt übte. Er kochte ihr Lieblingsessen, tat alles, was sie beruhigte. Bei ihren nächtlichen Prügelattacken schützte er sein Gesicht. Gegengewalt kam für ihn nicht in Frage. Die Freundin drohte damit, sich das Leben zu nehmen, sollte er sie verlassen. Er kam nicht mehr zur Ruhe, hatte enorme Schlafdefizite.
Ein gemeinsamer Umzug nach Stuttgart brachte Michael schließlich ein eigenes Arbeitsumfeld, ein Arztbesuch die Vermittlung an die Sozialberatung. Eine auswärtige Weiterbildung ließ sich für die Flucht in die Schutzwohnung nutzen, um sich zurückzuziehen und neu zu orientieren.