Mitten in Berlin ist eine Zeitkapsel aufgeschlagen. Plötzlich steht ein immenser Gegenstand aus einer vergangenen Epoche in der Mitte dieser quirligen Stadt: ein Monolith, der in sich ruht und uns fragt, wie wir Heutigen dieses scheinbar 170 Jahre alte Artefakt verstehen. Das Berliner Schloss ist eine große Leistung der Architektur.
Der Förderverein Berliner Schloss hat imposante Arbeit geleistet. Das Bauwerk ist großartig, und doch kann eine solche steinerne Verkörperung des alten Preußen kein Grund zu ungetrübter Bewunderung sein. Aus historischer und politischer Sicht, aber auch aus religiöser Sicht bleibt das Schloss mehrdeutig.
Besonders hat sich der Streit an der biblischen Inschrift an der Kuppel entzündet. Ich bin der Meinung: Diejenigen, die die Schlosskuppel historisch hochschätzen als Kristallisationspunkt deutscher Herkunft und Geschichte, haben teils Recht, aber eigenartig: Sie missverstehen die biblischen Verse, um die es hier geht.
Ich werde argumentieren, dass diejenigen kritisch auf den Missbrauch der Bibel hinweisen müssten, denen die Schriften des Apostels Paulus am Herzen liegen. Insgesamt nötigt die eigenartige "Zeitkapsel" auf dem Schlossplatz zu einem besonderen Umgang mit ihr.
Das Schriftband
Das Berliner Schloss ist weitestgehend ein Nachbau des alten Schlosses der preußischen Könige und der deutschen Kaiser. Um das Jahr 1850 ließ der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die Kuppel auf das Berliner Schloss setzen, auf der er oben ein Kreuz anbringen ließ. Direkt unterhalb der Kuppel wurde ein Schriftband mit Bibelversen eingesetzt. In goldenen Buchstaben auf blauem Grund steht dort eine Kombination von zwei Bibelversen, Apostelgeschichte 4,12 und Philipper 2,10, vom König selbst zusammengestellt: "Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind."
Alexander Maßmann wurde im Bereich evangelische Ethik und Dogmatik an der Universität Heidelberg promoviert. Seine Doktorarbeit wurde mit dem Lautenschlaeger Award for Theological Promise ausgezeichnet. Publikationen in den Bereichen theologische Ethik (zum Beispiel Bioethik) und Theologie und Naturwissenschaften, Lehre an den Universitäten Heidelberg und Cambridge (GB).
Der Streit
Kritiker wenden ein, hier werde an sehr prominenter Stelle ein christlicher Herrschaftsanspruch inszeniert, der in unserer heutigen pluralistischen Gesellschaft aus der Zeit gefallen sei. Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat deshalb vorgeschlagen, die Bibelverse zu bestimmten Zeiten mit einer Lichtinstallation zu überblenden. Einzelne meinen sogar, man solle die Inschrift ganz überdecken.
Demgegenüber sagen die Verteidiger des Schlosses, es handle sich einfach um eine historische Rekonstruktion. Die Kuppel samt Kreuz und Schriftzug sei aus Gründen des Denkmalschutzes zu achten. Der Bau wurde außerdem ganz aus Spenden finanziert, ohne Steuermittel. Eine grundlegende Kritik am Schriftzug sei dagegen "kulturelle Selbstverleugnung", weil das Gesamtpaket Schloss einen wichtigen Teil deutscher Herkunft und Geschichte verkörpert.
Die Wucht der Architektur
Das sind gewichtige Argumente, doch der Streit wird damit nicht zur Ruhe kommen. Die preußischen Könige bauten nicht ohne Grund monumental. Ein Bauwerk von solcher Wucht und Pracht, mitten im Zentrum, macht Eindruck, ob man will oder nicht. Auch wer sich aus tief empfundenen weltanschaulichen Gründen an dem Schriftzug reibt, kann sich der Macht der Architektur nicht einfach mit einem Vernunftargument ("Denkmalschutz") innerlich entziehen. Das zu verlangen, heißt, den Neubau zu unterschätzen.
Kuppel ist historisch aufgeladen
Historisch war die Kuppel mit Kreuz und Inschrift ein markanter Teil des Schlosses, der fast ein Jahrhundert lang die Mitte Berlins prägte – im preußischen Königreich, dem Kaiserreich, der Weimarer Republik und darüber hinaus. Am Ende des nationalsozialistischen Regimes brannte die Kuppel nach einem Luftangriff aus, und 1950 ließ die DDR sie vollends sprengen. Der Wechsel der politischen Systeme hat das Schloss samt Kuppel symbolisch stark aufgeladen. Bei einer Rekonstruktion des Schlosses hätte man das Spruchband nicht einfach weglassen können.
Was bedeuten die Bibelverse?
Die Frage nach der Bedeutung der Schlosskuppel ist vertrackt. Schaut man genauer hin, werden die Bibelverse auf der Schlosskuppel auch aus christlicher Sicht problematisch. Entgegen dem ersten Anschein sollten Christinnen und Christen nicht annehmen, dass hier ein Satz ihres Glaubens zu Ehren gebracht wird. Wer sich aus Gründen des Denkmalschutzes und der Historie für die Schlosskuppel ausspricht, muss nun im historischen Denken konsequent bleiben. Dann sieht man, dass die Verwendung von Philipper 2 an der Schlosskuppel für den christlichen Glauben ein Problem ist.
Christinnen und Christen mögen fragen: Geht es hier nicht einfach um den Namen Jesus und nichts anderes? Nein, den bloßen Namen zu beschwören wäre abstrakt und geschichtsvergessen. Man muss zugleich fragen: Wer war Jesus für den Apostel Paulus? Was wollte der Apostel überhaupt in Philipper 2?
Der Christus-Hymnus: Statusverzicht
In Philipper 2 stellt der Apostel Paulus die Geschichte Jesu vor Augen. Im Gegensatz zu seinem göttlichen Rang hat Jesus den schändlichen Tod am Kreuz gewählt. Er hat nicht auf seiner hohen Würde beharrt. Doch aufgrund der Kreuzes-Demut hat Gott Christus erhöht und ihm himmlische Ehre gegeben. Deshalb gebührt ihm die Verehrung.
Paulus zieht daraus praktische Konsequenzen: Auch die Christen in Philippi sollen in ihren Auseinandersetzungen nicht auf ihrem Recht zu beharren, sondern Jesus so nacheifern, dass eine der anderen nachgibt (Phil. 4,2 ). Es geht Paulus um einen praktischen Statusverzicht – und nicht abstrakt um den bloßen Namen Jesu. Aber: was wollte eigentlich der König mit einer solchen Inschrift?
Die historische Weichenstellung 1848
Zur Bedeutung eines Satzes gehört die Situation, in der er gesagt wird. Als der König die Kuppel baut und die Inschrift anbringt, kommt es 1848 in Deutschland zur März-Revolution. Liberale und Demokraten schaffen die Grundlagen für ein geeintes, demokratisches Deutschland. Als Vollendung ihrer Bemühungen bieten sie dem preußischen König die deutsche Kaiserkrone an – im Berliner Schloss selbst!
Friedrich Wilhelm ist aber kein Liberaler und kein Demokrat. Er lehnt dankend ab: Seine königliche Herrschaft ist ihm direkt von Gott übertragen. Wem die Krone dagegen nur vom Volk verliehen wird, dem kann das Volk die Krone auch nehmen. Der Vater des Königs war Zeuge, wie das in der Französischen Revolution geschah. Friedrich Wilhelm IV. schreibt in seiner Korrespondenz, "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten".
Die heutigen Kirchen in Deutschland sind keine Anhänger des Gottesgnadentums. Doch damals hätte das Gottesgnadentum diejenigen nicht überzeugt, die in der religiösen Verehrung Christi ohnehin lax waren. Herausgefordert durch die Demokraten wirbt Friedrich Wilhelm für die Grundlagen seiner politischen Weltanschauung, indem er demonstrativ für Christus als den höchsten Herren wirbt. Dieser höchste Herr hat unter sich den König eingesetzt. Das ist der Sinn der biblischen Inschrift an der Schlosskuppel.
In Stein gemeißelte Weltanschauung
Diese historischen Zusammenhänge sichtbar zu machen, war das Ziel des Architekten des heutigen neuen Schlosses. Denn die Weltanschauung des Gottesgnadentums war im Schloss Stein geworden. Besonders prominent ist das Westportal, das einen römischen Triumphbogen nachbildet. Es wird gerahmt von Engeln, die den Ruhm des ersten preußischen Königs, Friedrich I., verkündigen. Und gerade vor zehn Tagen hat man das imposante Wappen Preußens mit riesiger goldener Krone dort angebracht.
Über diesem Portal nun thront die Kuppel mit der Bibel-Inschrift, direkt über den Insignien der weltlichen Macht. Gut 50 Jahre lang überragte diese Kuppel auch den damaligen Berliner Dom, den deutlich kleineren Vorgänger des heutigen Doms. Dass ein religiöses Bekenntnis in dieser Form privat und unpolitisch wäre, ist ausgeschlossen. Das Ensemble von Portal und Kuppel ist steingewordene politische Theologie.
Bibel und Gottesgnadentum
Die Bibelinschrift warb also für die religiösen Grundlagen der preußischen Herrschaft. Mit den Bibelversen über dem Westportal beharrte der König auf seiner Macht über die Untertanen, wohlgemerkt unter Christus. Mit dem klaren Statusverzicht von Philipper 2 hatte Friedrich Wilhelm dagegen nichts im Sinn – im Gegenteil. Der paulinische Vers ist nicht dazu geeignet, weltliche oder religiöse Herrschaft zu begründen, und sei der Herrscher noch so wohlwollend. Hier hat Friedrich Wilhelm Paulus klar missverstanden und Philipper 2 zur Legitimierung der eigenen Macht missbraucht.
Fazit 1: das Schloss historisieren
Wenn wir uns um bedeutende Kunstgegenstände streiten, stellen wir sie normalerweise ins Museum. Man kann sie bewundern oder kritisieren, doch die Gesellschaft als ganze enthält sich bewusst des offiziellen Urteils. Das Schloss aber ist selbst ein Museum, das man schlecht wieder in ein Museum stellen kann.
Der Nachbau des Schlosses ist eine große Leistung. Die Inschrift auf der Kuppel des Berliner Schlosses zu entfernen, wäre dagegen geschichtsvergessen. Prinzipiell muss sie sichtbar bleiben. Doch gerade, wenn wir die Geschichte ernst nehmen, können wir nicht so tun, als ob wir heute im Königreich Preußen lebten oder als ob das Schloss kontinuierlich dort gestanden hätte, ohne die Unterbrechung der DDR.
Wir müssen das Schloss um der Geschichte willen historisieren. Das heißt, es einem öffentlichen Räsonnement unterwerfen, sowohl wertschätzend als auch kritisch. Wir müssen das Gebäude als Teil einer vergangenen Epoche wahrnehmen, wiederaufgebaut durch das bürgerschaftliche Engagement in der Bundesrepublik. Wie können wir uns das Schloss geistig zu eigen machen, damit es kein Fremdkörper bleibt?
Fazit 2: Licht-Installation
Das ist auch aus christlicher Sicht geboten. Denn als Friedrich Wilhelm mit den Bibelversen der Kuppel fürs Gottesgnadentum warb, missbrauchte der oberste Bischof Preußens das Neue Testament. Gerade diejenigen, die Kritikern Geschichtsvergessenheit vorwerfen, sollten einen kritischen, sachlichen Diskurs auch darüber begrüßen.
Vor dem Schloss bloß eine erklärende Tafel anzubringen, wäre dafür nicht ausreichend. Das Schloss ist so wuchtig und großartig, dass die schiere Deutungsmacht des Gebäudes selbst ein solches Täfelchen überrumpeln würde. Deshalb finde ich den Gedanken einer Licht-Installation sinnvoll, die die Bibelinschrift zeitweilig mit anderen Zitaten überblendet. Auch aus kirchlicher Sicht wäre in dieser Angelegenheit gar nichts Besseres denkbar, als dass eine solche Installation immer wieder dazu herausfordert, über die Bedeutung der Bibel in der Gesellschaft zu debattieren.