Im vergangenen Jahr hat Deutschland über eine Million Ukrainer:innen aufgenommen, und die Zahl von Flüchtlingen aus anderen Ländern hat ebenfalls zugenommen. Insgesamt ergibt das mehr Geflüchtete als 2015 und 2016. Heute ist Russlands Angriff auf die Ukraine ein wesentlicher Faktor, während damals die Krise in Syrien besonders stark zu Buche schlug. Aber es gibt auch beachtliche Erfolge in der Integration. Bemerkenswert ist aus christlicher Sicht, dass dieses Jahr auch die Jahreslosung aus der Perspektive eines Flüchtlings formuliert ist – Hagars Anrede an Gott: "Du bist ein Gott, der mich sieht".
Eine christliche Perspektive auf die Migration
Die Jahreslosung 2023 stammt aus dem Mund eines Flüchtlings. Hagar ist eine ägyptische Sklavin, die im Haushalt Abrahams unterdrückt wird und flieht (Genesis 16). Auf der Flucht erhält sie die Verheißung reicher Nachkommenschaft. Sie fühlt sich gesehen und bekennt: "Du bist ein Gott, der mich sieht."
Die Erfahrung der Flucht spielt auch sonst in den Erzählungen der Erzeltern (1. Mose 12–36: Abraham, Isaak und Jakob) eine prominente Rolle. Sie fliehen z.B. vor Hungersnot und allerlei Bedrohungen. Abraham und Sarah, die Stammeltern von Juden, Christen und Muslimen, sind Dauermigranten. Besonders Jakob, der einen Sonderrang als Stammvater des Gottesvolkes Israel hat, ist ein unsteter Flüchtling. Er wird aber keinesfalls idealisiert. Wie er sich angesichts vieler Härten durchschlägt, bringt ihm sogar den Ruf eines Schwindlers ein. Und gerade dieser Jakob ist, wie auch sein Vater und Großvater, immer wieder der Träger von Gottes Segen. Christinnen und Christen haben also Grund, Flüchtlinge trotz aller Schwierigkeiten mit Zuversicht und Wohlwollen zu betrachten.
Die Kriminalitätsstatistik
Laut dem Psychologieprofessor Thomas Elbert führen die Härten der Flucht bei vielen zu posttraumatischen Belastungsstörungen. Möglicherweise stand das auch im Hintergrund, als ein Geflüchteter vor zwei Monaten zwei Personen mit dem Messer erstach.
Natürlich entschuldigt die Härte der Situation vieler Geflüchteter keinerlei Straftaten. So beobachtet das Bundeskriminalamt den Anteil von Geflüchteten an der Kriminalstatistik – also von Asylberechtigten, Asylbewerbern, Menschen mit Duldung und ähnlichem Status. Im Jahr 2021 stammten 7 Prozent aller Tatverdächtigen aus dieser Gruppe. Doch diese Rate war in den Jahren zuvor zurückgegangen, obwohl die Anzahl der Geflüchteten in dieser Zeit klar zugenommen hatte.
Gelingende Integration
Besonders Männer aus bestimmten Ländern waren für die Polizei tatverdächtig, doch in den neueren Flüchtlingsstatistiken waren diese Länder nicht besonders prominent vertreten. In den letzten drei Jahren stammten Geflüchtete besonders aus der Ukraine, aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und der Türkei, doch diese Herkunftsländer spielen wiederum keine besondere Rolle unter den polizeilich verdächtigten Geflüchteten. Angesichts der schwierigen Situation der Geflüchteten dürfte die Kriminalitätsstatistik insgesamt ein Gelingen der Integrationsbemühungen belegen.
Hinzu kommt, dass die Deutschen sich heute stärker mit der Situation der Ukrainer:innen identifizieren dürften als sie das vor einigen Jahren mit den Syrer:innen taten. Auch wenn es manchen unfair scheinen mag, kommt uns die Ukraine stärker wie ein Teil Europas vor.
Rechtsextremistische Gewalt
Zugleich merkt das BKA an, dass das Thema Kriminalität immer wieder von Rechtsextremen missbraucht wird, um gegen Flüchtlinge, ja Menschen mit Migrationshintergrund insgesamt Stimmung zu machen. Doch es bleibt nicht bei Worten; vielmehr kommt es auch zur Gewalt gegen Geflüchtete. Laut BKA ereigneten sich 2021 in Deutschland durchschnittlich zwei flüchtlingsfeindliche Vorfälle pro Tag.
Die Amadeu-Antonio-Stiftung hat sogar beobachtet, dass ein "Großteil" der Angriffe gar nicht angemessen in die Polizeistatistik eingeht. Das ist besorgniserregend. Zwar sind die Vorfälle, in denen Polizisten nachweislich rechtsextremistische Sympathien zeigen, vergleichsweise selten. Doch wir wissen, dass das nicht nur Einzelfälle sind. Auch dass viele fremdenfeindliche Gewalttaten in den offiziellen Statistiken nicht auftauchen, legt nahe, dass die bekannten rechtsradikalen Vorkommnisse bei der Polizei nur die Spitze des Eisbergs sind.
Schräge Diskussionen
Verschiedentlich werden in Talk-Shows zur Flüchtlingssituation drastische Maßnahmen diskutiert. Um einen Antrag auf Asyl in Deutschland zu stellen, muss man sich im Land befinden. Doch nun wurde etwa gefragt, ob die EU-Außengrenzen stärker befestigt werden sollten, damit weniger Flüchtlinge zu uns kommen. Damit würde effektiv das Grundrecht auf Asyl ausgehebelt, das unser Grundgesetz (Artikel 16) verbürgt.
In einer anderen Talk-Runde fragte ein Moderator, ob Syrer ebenso eine "Bereicherung" für unsere Gesellschaft sein können wie Ukrainer:innen. Zwar bestehen größere religiöse Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und der Ukraine, und man könnte Mutmaßungen über das gesellschaftliche Bildungsniveau anstellen. Doch die Syrer:innen spielen keine prominente Rolle in der Polizeistatistik, und eine Ungleichbehandlung aufgrund von Gruppenmerkmalen würde ohnehin gegen das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes (Artikel 3) verstoßen.
Was man tun kann
Wohlgemerkt: Dass Diskussionsrunden im Fernsehen über Geflüchtete debattieren, ist legitim. Man kann diesen Debatten sinnvolle Hinweise entnehmen, die dabei helfen könnten, die angespannte Lage zu bewältigen: Asylverfahren müssten deutlich beschleunigt werden. Politiker:innen sollten mehr Migrationsabkommen schließen, so dass mehr abgelehnte Flüchtlinge zurückgeschickt werden können. Möglicherweise sollte die Zusammenarbeit mit der Türkei wieder intensiviert werden, damit von dort weniger Menschen nach Deutschland kommen. Der Bund sollte den Kommunen schneller Immobilien zur Verfügung stellen, die sie für Geflüchtete benötigen. Vielleicht wäre es auch möglich, mehr Ruheständler zu aktivieren, damit sie in Deutschkursen aushelfen oder auch bei der medizinischen Versorgung Geflüchteter. Immer wieder wird außerdem das bürgerliche Engagement von Einzelpersonen und Vereinen betont.
Andererseits aber besteht die Gefahr nicht nur darin, dass die Integration zahlreicher Geflüchteter mangels Kapazitäten missglückt. Eine Gefahr ist auch, dass Rechtsextreme zunehmend die Deutungshoheit gewinnen. Sie haben bereits großen Einfluss darauf, was in der Polizeistatistik erscheint und was nicht.
Großbritannien als warnendes Beispiel
Im politischen Bereich bietet darüber hinaus Großbritannien ein warnendes Beispiel. Dort wurde vor zehn Jahren zu einer Leitlinie der Politik, dass das Land zu einer "feindseligen Umgebung" (Theresa May) für Flüchtlinge werden müsse. Bald darauf hat man mit Plakaten für den Brexit geworben, die alarmierend lange Schlangen von Flüchtlingen zeigten. Tatsächlich gibt es in Großbritannien deutlich weniger Flüchtlinge als in Deutschland. Doch die deutschen Flüchtlingsheime sind mit den britischen Verhältnissen kaum vergleichbar. Als man kürzlich feststellte, dass von 200 Kindern, die nach Großbritannien geflohen waren, jegliche Spur fehlt, wurde nicht viel Aufhebens gemacht.
Problemorientierte Sachpolitik (etwa in den Bereichen Umwelt, Soziales, Bildung, Gesundheit) ist unterdessen selten geworden. Umfragen belegen, wie das Vertrauen in die Politik insgesamt geschwunden ist. In deutschen Medien wird Großbritannien immer wieder als der "kranke Mann Europas" bezeichnet. Kein Wunder: Politiker:innen können von echten politischen Problemen viel zu leicht ablenken, indem sie beim angeblichen Flüchtlingsproblem Aktivität simulieren. Die gegenwärtige politische Misere Großbritanniens hat mehrere Gründe, doch der politische Prozess wurde unter anderem durch den fremdenfeindlichen Diskurs in Geiselhaft genommen. Neben den Flüchtlingen muss dafür auch die britische Bevölkerung büßen. Anstatt sich echten Problemen zu widmen, schimpft die Politik auf die Flüchtlinge.
Ausblick
Die gegenwärtige Lage der Geflüchteten in Deutschland ist sehr angespannt. Angesichts der prekären Situation bei der Unterbringung, Versorgung und Integration in den Kommunen kann es sinnvoll sein, die Bearbeitung der Asylanträge zu beschleunigen und neue Möglichkeiten zu schaffen, um Flüchtlinge nach einem negativen Urteil zurückzuschicken. Doch insgesamt sollten wir vorrangig den Menschen hier im Lande helfen. Versuche, die Aufnahme von Flüchtlingen insgesamt rigoros zu beschränken oder verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen, sind abzulehnen. Letztlich geht es auch um die Frage, ob sich Deutschland insgesamt stärker Richtung Rechtsextremismus bewegt.
Christinnen und Christen haben jedenfalls Grund, sich praktisch für Flüchtlinge einzusetzen, schon weil in der Bibel Gott besonders den Geflohenen seinen Segen verheißt.