Geradezu das Nonplusultra des perfiden Plans wäre schließlich die Beteiligung einer Ermittlerin, die grundsätzlich nur den Fakten glaubt, denn anders als Menschen lügen Fakten nicht. Schon die früheren "Masuren-Krimis" waren nicht zuletzt in psychologischer Hinsicht hochinteressant, aber der vierte Film mit Claudia Eisinger konfrontiert Kriminaltechnikerin Viktoria Wex mit einer Herausforderung, die die Grundfesten ihrer Überzeugungen erschüttert: Folgt sie wie stets ihren wissenschaftlichen Prinzipien, wird ihr Kollege Leon Pawlak (Sebastian Hülk) wegen eines kaltblütigen Mordes verurteilt. Hält sie sich an den Rat ihres Onkels und folgt ihrem Herzen, verrät sie alles, was die Basis ihrer erfolgreichen Arbeit ausmacht. Ausgerechnet jetzt hat sie ohnehin jedes Urvertrauen verloren, seit sie Grund zu der Annahme hat, dass ihr ermordeter Mann nicht der war, für den sie ihn gehalten hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Drehbuch zu "Freund oder Feind" stammt diesmal zwar nicht von Reihenschöpferin Ulli Stephan, aber Nadine Schweigardt erzählt die Geschichte in gleicher Qualität weiter. Durch das Dilemma der Hauptfigur werden die typischen Merkmale ihrer Persönlichkeit sogar noch zugespitzt. Clever spiegelt die Autorin Viktorias Wesenszüge in dem autistischen jungen Oskar (Béla Gabor Lenz), der ganz ähnlich tickt: fachlich brillant, aber in Sachen Emotion und Empathie erheblich eingeschränkt, was den IT-Spezialisten zu Viktorias kleinem Bruder im Geiste macht; es wäre sicher kein Nachteil, wenn die Rolle der Reihe erhalten bliebe.
Schweigardt, 2017 für ihr Exposé zu dem sympathischen Roadmovie "Der Alte und die Nervensäge" mit dem "Impuls"-Preis der ARD-Tochter Degeto geehrt, hat jedoch darauf verzichtet, die psychologische Ebene ausführlich zu formulieren oder allzu sehr in den Vordergrund zu stellen. Dennoch ergibt sie sich beinahe zwangsläufig, als Pawlak zu einem Tatort gerufen wird: Der Besitzer eines Unternehmens für Cybersicherheit ist ermordet worden. Mit dem Betreten des luxuriösen Eigenheims beginnt für den Dorfpolizisten ein Spießrutenlauf, den das Drehbuch zuvor mit einem gemeinsamen Ausflug eingeleitet hat: Pawlaks Tochter Emilia soll in der Natur Material für ein Schulprojekt sammeln.
Selbstredend kann das Trio nicht ahnen, dass dem Vater ausgerechnet ein Schnepfenvogel zum Verhängnis wird. Eine Feder des seltenen Kampfläufers ist nur eins von mehreren Indizien, die eindeutig gegen Pawlak sprechen, sodass es für Wex keinen Zweifel geben kann: Ausgerechnet der Kollege, zu dem sie gerade ein gewisses Zutrauen entwickelt hat, ist offenbar der Mörder des Unternehmers, zumal sie in den Dateien des Opfers auf einen dunklen Punkt in Pawlaks Vergangenheit stößt.
Das Ensemble ist ausnahmslos vorzüglich, aber die Leistung von Matilda Jork als Tochter, die Wex schließlich als Assistentin hilft, die Unschuld ihres Vaters zu beweisen, verdient eine besondere Erwähnung. Das Mädchen ist schon als Kind in dem Film "Okavango - Fremder Vater" (2017) aus der ZDF-Reihe "Fluss des Lebens" positiv aufgefallen und bestätigt in "Freund oder Feind" den guten Eindruck aus den ersten drei Masuren-Krimis. Regie führte wie zuletzt bei "Marzanna" Sven Taddicken, der gemeinsam mit Kamerafrau Fee Strothmann erneut für eine exzellente Bildgestaltung gesorgt hat. Die inhaltlichen Kontraste, die sich unter anderem im Titel manifestieren, prägen auch Optik und Akustik: Die Musik aus Vivaldis "Vier Jahreszeiten" ("Winter") bildet einen krassen Kontrapunkt zur blutigen Hinrichtung, die Idylle der prachtvoll fotografierten Natur steht im Gegensatz zur kalten Welt des Cyberspace.
Vom Widerspruch zwischen Fakten und Gefühlen ganz zu schweigen: Nur weil man glaubt, man kenne die Menschen, sagt Viktoria, "weiß man noch lange nicht die Wahrheit über sie." Andererseits erinnert sie sich an eine Lehre ihres klugen Onkels, der ihr einst beigebracht hat, dass das Gehirn einem manchmal einen Streich spielt: "Die Wahrnehmung entspricht nicht immer der Realität." Dass die Wissenschaftlerin auf dem richtigen Weg ist, signalisiert nicht zuletzt ihre Kleidung: Trug sie in der letzten Episode ausschließlich Schwarz oder Grau, so gönnt ihr das Kostümbild diesmal den einen oder anderen dezenten Farbtupfer; ein weiterer Beleg für die Sorgfalt, mit der die Masuren-Krimis inszeniert werden.