Sterbenskranker Mann liegt im Bett
© epd-bild/Werner Krüper (M)
Ethiker Alexander Maßmann fragt sich in dieser Ausgabe von "evangelisch kontrovers": Kann man Sterbehilfe moralisch rechtfertigen?
Kolumne: evangelisch kontrovers
Was ist von der Sterbehilfe zu halten?
Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat der Bundestag beraten, wie man die Beihilfe zur Selbsttötung allgemein zugänglich machen wird. Die ethische Kontroverse über diese Frage ist sehr brisant. Was ist also ethisch vom assistierten Suizid zu halten?

Vor drei Monaten hat der Bundestag über verschiedene Gesetzesvorschläge zur Sterbehilfe beraten. Das ist eine Reaktion auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, laut dem die Beihilfe zur Selbsttötung allgemein verfügbar sein müsse. Auf Wunsch stellt der Arzt oder die Ärztin dem oder der Sterbewilligen ein tödliches Gift zur Verfügung, das die Patientin dann selbständig einnimmt. Diese Möglichkeit ist laut den Karlsruher Richter:innen ein Gebot der Menschenwürde, die ja im Grundgesetz von entscheidender Bedeutung ist. Die Menschenwürde schütze, so die Richter:innen, bei solch kontroversen Entscheidungen die persönliche Autonomie. Dass die Beihilfe zum Suizid bald leichter verfügbar sein wird, ist also anzunehmen. Aber was ist davon ethisch zu halten?

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Die Richter:innen des Gerichts knüpfen die Beihilfe zum Suizid an die Bedingung, dass der Patient mit dem Leben abgeschlossen hat und dass es sich dabei um einen wohlüberlegten Entschluss handelt. Menschen mit geistiger Verwirrung bleibt die Sterbehilfe also verwehrt. Außerdem ist niemand verpflichtet, Sterbehilfe zu leisten. Christliche Krankenhäuser können sich dem etwa verweigern.

Das Urteil sieht ebenfalls vor, dass die Beihilfe zum Suizid legal sein soll, auch wenn keine Krankheit vorliegt. Für einen sogenannten "Bilanz-Suizid" kann man also ohne besonderen Leidensdruck ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Außerdem schweigt das Gericht zu einer anderen Form der Sterbehilfe, der Tötung auf Verlangen. Damit bleibt strafbar, dass eine Ärztin auf Wunsch aktiv die Giftspritze setzt, anstatt das Gift bereitzustellen, das die Patientin dann aktiv nähme.

Argumente für den assistierten Suizid

In meiner Diskussion werde ich mich auf den assistierten Suizid bei schwerer Krankheit konzentrieren. Da es sich bei der Sterbehilfe um ein sehr kontroverses, emotionsgeladenes Thema handelt, bemühe ich mich, das Für und Wider ausgeglichen darzustellen und Ihnen, den Lesenden, Ihr eigenes Fazit überlassen.

Das stärkste Argument für die assistierte Selbsttötung ist, dass manche schwerkranke Menschen große Schmerzen haben. Ihnen möchte man die Möglichkeit geben, auf Wunsch ihr Leiden "fachgerecht" zu verkürzen. Zwar hat die sogenannte Palliativmedizin große Fortschritte gemacht bei der Linderung von Schmerzen. Dennoch kommt die Schmerzlinderung hier und dort noch an ihre Grenzen. Bei besonders starker Sedierung kann etwa mit dem Schmerz zugleich das Bewusstsein des Patienten betäubt werden. Der Gedanke an eine solche Situation ist manchen sehr zuwider.

Umfrage

Ist es ethisch gerechtfertigt, dass zumindest Menschen mit schwerer Krankheit Beihilfe zur Selbsttötung erhalten können?

Auswahlmöglichkeiten

Die Kirchen haben sich demgegenüber für Sterbebegleitung statt assistiertem Suizid ausgesprochen. Doch die Annahme, dass Menschen, die tatsächlich kompetente Begleitung beim Sterben erfahren, den Wunsch nach Sterbehilfe aufgeben, gilt so pauschal nicht. Verschiedentlich berichten die Medien, dass Sterbewillige in gesundheitlichen Krisen durch Ehepartner eng begleitet werden, die sie auch beim öffentlichen Ruf nach Sterbehilfe unterstützen.

Aus Sicht der Sterbehilfe-Befürworter läuft es darauf hinaus, dass Menschen – zumindest in Einzelfällen – ihre Situation für unerträglich halten, ihnen aber Beihilfe zum Suizid nicht zugänglich ist, obwohl das die Rechte anderer nicht verletzt, obwohl Ärzte bereit wären, beim Suizid zu assistieren, und obwohl ihnen so verwehrt wird, ihrem Gewissen gemäß zu handeln.

Sterbehilfe in den Niederlanden

In den Niederlanden, wo seit den Neunzigern Sterbehilfe praktiziert wird, steigen die Zahlen seit 2004 auf relativ hohem Niveau stetig an. Während die Sterbehilfe in den konservativen Regionen des Landes wenig praktiziert wird, nahmen vor ein paar Jahren in manchen Teilen von Amsterdam fast 15 Prozent aller Sterbenden Sterbehilfe in Anspruch. Auf einem niedrigeren Niveau verzeichnen auch Belgien und die Schweiz eine kontinuierliche Zunahme in der Sterbehilfe.

Zwar sind hier Eigenarten der niederländischen Situation zu bedenken: Im Nachbarland ist auch Tötung auf Verlangen legal, und gesetzlich erforderlich ist weder eine schwere körperliche Krankheit noch das klare, volle Bewusstsein der Sterbewilligen. Dennoch ist die Lage in den Niederlanden auch für die deutsche Situation relevant.

Argumente gegen den assistierten Suizid

Ein vermeintliches Argument für die Sterbehilfe lautet: Wenn die Möglichkeit zur Sterbehilfe bestehe, gebe die Möglichkeit eines letzten Auswegs neues Vertrauen, und so erhalten Menschen die Kraft, Sterbehilfe gerade nicht in Anspruch zu nehmen. Doch die steigenden Zahlen der Sterbehilfe in Europa sprechen gegen diese Ansicht. Die Möglichkeit der Sterbehilfe reduziert nicht einmal – oder zumindest nicht nennenswert – die Anzahl der nicht-assistierten Suizide ("Brutalsuizide").

In bestimmten Fällen mögen manche die Sterbehilfe zumindest subjektiv als einen Gewinn an Autonomie erleben. Doch in anderen Fällen – möglicherweise auch dann, wenn eine schwere Krankheit vorliegt – könnte sie eine zunehmende Hilflosigkeit im Sterben erst recht verfestigen. Man ringt nicht mehr um eine Bejahung des Lebens angesichts von Beschwernissen, sondern findet sich mit der Niederlage ab, weil ein vermeintlicher Ausweg offensteht. Das ist besonders bedenklich, wenn man das Leben für eine wertvolle Leihgabe des Schöpfers hält, die an sich kostbar ist, auch dann, wenn das Leben einen beschwerlichen Verlauf nimmt.

Erhöht die Verfügbarkeit die Nachfrage?

Die steigenden Zahlen der Sterbehilfe werfen die Frage auf, ob Menschen den Wunsch danach deutlich weniger verspüren würden, wenn sie nicht verfügbar wäre. Wenn dem so ist, dann würde das Argument deutlich geschwächt, dass die Sterbehilfe einen Autonomiegewinn bedeutet. Autonomie bedeutet ja, dass die Gesellschaft das ermöglicht, was sich die Bürger:innen ernsthaft wünschen. Doch zumindest in manchen Fällen scheint es, dass nicht die Sterbehilfe allgemein verfügbar wird, weil ein Wunsch danach besteht. Sondern andersherum entstünde ein Wunsch nach der Sterbehilfe, weil sie allgemein verfügbar ist. 

Allein aus steigenden Zahlen zu folgern, dass schon die Möglichkeit die Nachfrage wachsen lässt, ist genau genommen nicht ganz wasserdicht. Dennoch ist es mehr als eine bloße Mutmaßung, dass die Möglichkeit der Sterbehilfe einen Todeswunsch wesentlich verstärke. Eine repräsentative Umfrage aus den Niederlanden weist etwa in diese Richtung. Unter denen, die die Sterbehilfe in Anspruch nehmen wollen und sie voraussichtlich erhalten würden, geben 42 Prozent als Grund an, das sie niemandem zur Last fallen wollen. Um etwas als Last zu empfinden, müssen wir uns zumindest vorstellen können, dass es nicht mehr da ist. In Bezug auf Menschen wird diese Vorstellung mit der Sterbehilfe wesentlich leichter.

Hinzu kommt ein demografischer Trend. Im Jahr 2020 kamen in Deutschland auf 100 Menschen im erwerbsfähigen Alter bereits 31 Menschen, die 67 Jahre oder älter waren. Im Jahr 2050 werden auf 100 Erwerbsfähige aber 47 im Rentenalter kommen. Wirtschaftlich und arbeitsökonomisch ist das in der Tat eine Herausforderung. Damit ist nicht ausgemacht, dass die jüngeren Menschen die älteren tatsächlich als Last empfinden werden. Doch dass eine zunehmende Anzahl von Älteren wiederum gerade das denken dürfte, ist plausibel. Die Gefahr ganz zu ignorieren, dass das zu einem Anstieg in der Sterbehilfe führt, wäre geradezu blauäugig.

Fazit

Die Möglichkeit des assistierten Suizids dürfte von bestimmten Personen als ein Zugewinn an Autonomie erlebt werden. Doch es hat den Anschein, dass sie für bestimmte Menschen auch einen Verlust an Autonomie bedeutet. Angesichts des demografischen Wandels ist hier an die zahlreichen älteren Menschen zu denken, die niemandem zur Last fallen wollen. Das Bundesverfassungsgericht wollte die individuelle persönliche Autonomie stärken, doch hätten die Richter:innen genauer fragen müssen: wessen Autonomie? 

Nun steht nicht mehr in Frage, ob die Beihilfe zur Selbsttötung in Deutschland allgemein zugänglich sein wird. Nicht diskutiert habe ich hier außerdem die Frage, was von dieser Beihilfe zu halten ist, wenn ein akuter Leidensdruck durch eine Krankheit gar nicht vorliegt. Die Mehrheit der Deutschen ist zwar für die Möglichkeit des assistierten Suizids im Falle einer schweren Krankheit, aber nicht im Falle der Gesundheit. Was die Beihilfe zum Suizid für eine medizinisch gesunde Person angeht, haben die Karlsruher Richter:innen dem Gesetzgeber ohne Not die Möglichkeit eines Kompromisses versperrt – die Beihilfe zum Suizid, aber beschränkt auf die Situation einer schweren medizinischen Krankheit.