Es ist eindeutig Ernst Grube, der da auf den verlassenen, nächtlichen Gleisen steht und einem jungen Mann mit seiner ruhigen, eindringlichen Stimme und knappen Gesten aus seinem Leben berichtet. Allerdings prangt ein riesengroßer, hellglänzender Stern mit der verschnörkelten Aufschrift "Jude" am Nachthimmel - denn tatsächlich spielt sich dieses Gespräch in einem VR-Erlebnis mit dem Titel "Ernst Grube - Mein Vermächtnis" ab.
Wer sich die futuristische Brille für die "Virtuelle Realität" (VR) überstreift, begleitet den wirklichkeitsgetreuen Avatar des Holocaust-Überlebenden wie ein Zaungast in einer Art begehbarem Film durch verschiedene Stationen seiner Biografie - von der elterlichen Wohnung in München bis ins Ghetto Theresienstadt.
Das VR-Erlebnis mit Ernst Grube ist nur eines von mittlerweile vier digitalen Zeitzeugnissen in deutscher Sprache. Es wurde 2019 in einem UFA-Studio in Potsdam-Babelsberg mithilfe von 16 Kamerapaaren aufgezeichnet. Die Technik des "volumetrischen Videos" haben Wissenschaftler des Fraunhofer Heinrich Hertz Instituts in Berlin entwickelt.
In drei anderen virtuellen Zeitzeugen-Gesprächen, die dieser Tage im Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München präsentiert wurden, begegnet man den Holocaust-Überlebenden Abba Naor und Eva Umlauf sowie der mittlerweile verstorbenen Sintezza Zilly Schmidt. Sämtliche Projekte entstanden auf Initiative der LMU-Forschungsgruppe "Lernen mit digitalen Zeugnissen" (LediZ).
"Das ist eine neue Welt"
Die neue Form stößt nicht überall auf Begeisterung. "Kritiker warnen vor einer digitalen Konservierung und einem Aufbereiten der Lebensgeschichten in nutzergerechte Häppchen", berichtete Anja Ballis, Professorin für Didaktik der deutschen Sprache, bei der Veranstaltung. Ihr LediZ-Kollege Markus Gloe, Professor für Politische Bildung, ergänzte im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst: "Manche fürchten dabei die Erschaffung digitaler Geister." Der Wissenschaftler betonte, dass VR-Erlebnisse kein Ersatz für Zeitzeugengespräche seien: "Sie können jedoch auf andere Weise Erinnerung wachhalten."
Und was sagen die, um die es geht? "Ich bin eigentlich zu alt für dieses digitale Zeug", sagte die 80-jährige Eva Umlauf, die das KZ Auschwitz als Kleinkind überlebte, am Rande der Veranstaltung. Doch weil sie drei Söhne habe, wisse sie, dass junge Menschen an digitalen Formaten großes Interesse hätten. Als sie das Ergebnis der Aufnahmen gesehen habe, sei sie positiv überrascht gewesen: "Das ist eine neue Welt!"
Austausch muss stattfinden
Ähnlich sieht es Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) München, die zur Präsentation in die LMU gekommen war. Sie sei mit Blick auf VR-Erlebnisse noch etwas skeptisch, "aber wenn wir die Jungen auf diesem Weg erreichen können, dann wäre diese Art für mich in Ordnung", sagte die 90-Jährige dem epd. Ob sie sich selbst für ein volumetrisches Video filmen lassen würde, habe sie noch nicht entschieden: "Aber ich bin grundsätzlich sehr offen."
Ernst Grube schreibt den Forschenden noch einen Auftrag ins Pflichtenheft. Den Film könne man bislang mithilfe der VR-Brille nur alleine anschauen - "da fehlt die Gruppe", kritisierte der 90-Jährige. Er würde es begrüßen, wenn es künftig technisch möglich wäre, das VR-Dokument als Klasse gemeinsam zu erleben. Schließlich genüge es nicht, nur seine Erzählung zu hören, wenn danach kein Austausch, kein reges Gespräch stattfinde. "Aber wenn das Gerät das leisten kann, dann ist es gut", sagte Grube.
Die Zeit läuft weg
Bei der Zielgruppe kommen die digitalen Zeugnisse gut an. "Eine persönliche Begegnung mit Zeitzeugen wird in 15 Jahren niemandem mehr möglich sein", sagte Anton Schiefer, Lehramtsstudent für Sozialkunde. Die Frage sei nicht, was bei einem VR-Erlebnis an Atmosphäre verloren gehe. "Verloren geht uns das so oder so", stellte der junge Mann nüchtern fest. Bei der Suche nach Alternativen biete das virtuelle Erlebnis "ein Maximum" an Begegnung. "Mehr geht nicht", findet Schiefer.
Seine Kommilitonin Robin Mentrup sieht sogar einen Vorteil: "In persönlichen Zeitzeugengesprächen habe ich oft eine Scheu, dramatische Ereignisse anzusprechen", sagte sie. Bei einem virtuellen Interview wie beispielsweise mit dem Holocaust-Überlebenden Abba Naor wisse sie, dass ihre Fragen ohnehin gestellt wurden. "Also kann auch ich leichter fragen: Wie war das damals im KZ?"
Viel drängender als die Frage nach Für und Wider sei ohnehin der Faktor Zeit. "Die läuft uns nämlich weg", sagte Oliver Schreer, der das Forschungsteam am Berliner Heinrich Hertz Institut leitet. Jetzt, wo die technischen Möglichkeiten vorhanden seien, bräuchte es "Entscheider, die Geld in die Hand nehmen, um noch mehr digitale Zeugnisse zu finanzieren".
Denn das ist derzeit die Crux der Erinnerungsarbeit: Dass die Zeitzeugenschaft an ihr Ende kommt, während die Technik für virtuelle Begegnungen gerade am Anfang steht.