Ruth Heß steht als Theologin an der Spitze des EKD-Studienzentrums für Genderfragen in Hannover. Einer der Arbeitsschwerpunkte ist die Theologie der Anti-Gender-Bewegung. Vorbehalte gegen gewandelte Geschlechterrollen, gegen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt werden von rechten Gruppen instrumentalisiert als ein zentraler Türöffner, um rechtspopulistisches Denken in das bürgerliche und religiös-kirchliche Milieu hineinzutragen. Das geht auf Kosten von sexuellen Minderheiten, von Grundrechten und sexueller Vielfalt, sagt Heß im Interview mit evangelisch.de.
Es gibt frauenfeindlichen Rap, Hate Speech im Netz gegen Frauen, Sexismus am Arbeitsplatz. Warum braucht es aber in der Kirche ein Institut für Gender-Fragen?
Ruth Heß: Das Eigenartige an Geschlechterfragen ist ja, dass sie immer Rand- und Reizthema zugleich sind. Das gilt nicht nur in der Kirche, aber auch dort. Kirchenpolitisch gibt es dauernd "Wichtigeres" zu verhandeln. Doch sobald das Thema aufpoppt, erhitzen sich die Gemüter ungemein. Man denke nur an die Aufregung um die Orientierungshilfe der EKD zur Familienpolitik 2013 oder jetzt um das von der Bundesregierung geplante Gesetz zur geschlechtlichen Selbstbestimmung. Das Problem ist, dass die Dinge in dieser Spannung nur sehr schwer besprechbar sind. Einerseits weil sie offenbar viele Menschen tief in ihrer Identität treffen, andererseits weil der Kulturkampf um "Gender" sich in den letzten Jahren derart ausgeweitet hat.
Wo stehen Sie und ihre Einrichtung?
Heß: Als Studienzentrum sehen wir unsere Aufgabe darin, auf diesem verminten Gelände zu sortieren, einzuordnen, so dass Menschen sich jenseits der Polarisierungen ein begründetes eigenes Urteil bilden können. Darüber hinaus begleiten wir aktuelle kirchliche Debatten wie etwa die über Rechtspopulismus oder Kirchenentwicklung und speisen auf wissenschaftlicher Basis Geschlechterperspektiven da ein, wo sie virulent sind. Das reicht vom klassischen Gleichstellungsmonitoring über interdisziplinäre Forschungen zu Männlichkeit und Religiosität bis hin zur Theologischen Anthropologie.
Seit 1912 gab es immer wieder Institutionen und Bewegungen, die ausschließlich die Gleichberechtigung von Frauen bekämpft haben: Wie sehen die Bewegungen heute aus? Und was sind ihre Argumente?
Heß: Richtig. Schon im Kaiserreich identifizierte die Schriftstellerin Hedwig Dohm "Die Antifeministen", die sie scharfsinnig in vier Gruppen unterteilte: "die Altgläubigen", "die Herrenrechtler", "die praktischen Egoisten" und "die Ritter der mater dolorsa". Manche der Strategien, die da anklingen, ziehen sich bis heute durch – etwa bestimmte religiöse Argumentationsmuster oder die Behauptung, man müsse Frauen vor ihrer eigenen Gleichstellung schützen.
"Sie geben sich auch als Sachwalter von wahrem Christentum aus"
Zugleich haben die Anti-Gender-Akteur:innen des 21. Jahrhunderts ihr Auftreten radikal modernisiert. Sie kopieren die Aktionsformen linker Emanzipationsbewegungen. Sie gehen mit bunten Luftballons gegen die "Ehe für alle" auf die Straße und nennen das "Demo für alle". Sie betreiben Sprachpolitik, indem sie Schlagworte wie "Gender-Gaga"* oder "Frühsexualisierung" prägen. Sie vermeiden den erhobenen Zeigefinger und versuchen stattdessen, progressive Anliegen lächerlich zu machen. Auch das Themenspektrum hat sich stark ausgeweitet. Die Anti-Gender-Bewegung richtet sich nicht allein gegen die Emanzipation von Frauen, sondern gegen gewandelte Geschlechterrollen generell, auch für Männer. Sie richtet sich gegen Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit, gegen alternative Familienformen und alles, was diese Vielfalt sichtbar macht – in der Sprache, in den Medien oder auch in der Pädagogik.
*) Der Begriff "Gender-Gaga" ist ein Buchtitel der Autorin Birgit Kelle, die aus der Anti-Gender-Bewegung stammt.
Wie sprechen solche Gruppen heute antifeministische Haltungen an?
Heß: Wo sie Gleichgesinnte adressieren, geben sie sich als Sachwalter von "gesundem Menschenverstand", Tradition - und ja, auch von wahrem Christentum aus. Um in die Breite der Gesellschaft zu wirken, vermeiden die Akteur:innen es aber, allzu klar zu sagen, worauf sie konkret hinauswollen. Wahrscheinlich wissen sie, dass eine geschlechterpolitische Rolle rückwärts in die 1950er Jahre, wie sie ihnen offenbar vorschwebt, kaum noch vermittelbar ist. Denn die allermeisten Menschen profitieren ja vom liberalen Wandel der letzten Jahrzehnte erheblich.
"Alles, worauf man das Etikett ,Gender' kleben kann, ist verbrannt, ehe man es überhaupt diskutieren kann"
Wie gehen diese Gruppen vor?
Heß: Statt ihre Anliegen offen zur Debatte zu stellen, attackiert die Anti-Gender-Bewegung in typisch populistischer Manier lieber die politische Gegenseite – aggressiv und mit den immer gleichen Verzerrungen, Projektionen und Halbwahrheiten. Willkommene Zielscheibe ist besonders der tatsächlich ja etwas sperrige Fachbegriff "Gender", der zum Stigmawort umgedeutet wird. Es erscheint dann wahlweise als monströse Bedrohung oder als absurde Geldverschwendung, darüber an der Uni zu forschen.
Was folgt daraus?
Heß: Der Effekt: Alles, worauf man das Etikett "Gender" kleben kann, ist "verbrannt", noch bevor es überhaupt im Detail diskutiert werden konnte. Das ist der Tod im Topf jedes demokratischen Diskurses. In dieser verqueren Optik wird die Antidiskriminierung von Minderheiten zu deren Privilegierung, das Öffnen von Geschlechterrollen zum Zwang, Transgeschlechtlichkeit zum Frauen- oder Männerhass etc. Hier und da findet auch ein Schulterschluss mit sogenannten Radikalfeministinnen statt. Am Ende gerät Geschlechterpolitik so zu einer Art Spiegelkabinett, in dem man kaum noch weiß, was oben und was unten ist.
"Die Gruppen sind zahlenmäßig sehr klein, beanspruchen aber eine extrem hohe Prägekraft"
Wie groß ist innerhalb der evangelischen Kirche die Gruppe, die mit Anti-Gender-Positionen sympathisiert? Die beispielsweise Homosexualität als nicht von Gott gewollt ablehnt?
Heß: Dazu hat das EKD-Verbundprojekt "Politische Kultur und Kirchenmitgliedschaft" 2022 interessante Zahlen geliefert. Demnach haben Evangelische nicht mehr, aber auch nicht weniger Vorurteile als der Bevölkerungsdurchschnitt. Bei Aussagen wie "Ich finde es ekelhaft, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen" oder "Überzogene Forderungen der Gleichberechtigung richten sich gegen die Natur von Frauen und Männern" kann das allerdings Zustimmungswerte von gut 30 Prozent bedeuten. Richtig spannend wird es, wenn man auf bestimmte hochreligiöse Milieus schaut. Denn hier sind Geschlechter-Ressentiments tatsächlich deutlich erhöht. Nur sie – nicht die weiteren gruppenbezogenen Vorurteile, die untersucht wurden, zum Beispiel gegenüber Menschen mit Behinderungen oder Migrant:innen.
Was ist das Ergebnis?
Heß: Die Autor:innen der Studie sprechen von einem "markanten Befund", der kirchenpolitisch dringend mehr Aufmerksamkeit bedarf. Die Gruppierungen, über die wir hier sprechen, sind zwar innerhalb der Volkskirche zahlenmäßig sehr klein. In kirchlichen Kontroversen um Geschlechterfragen beanspruchen sie aber eine extrem hohe Prägekraft, weil sie sich als letzte Bastion der Rechtgläubigkeit verstehen. Damit religiös hoch identifizierte Menschen nicht in diese Falle tappen, in der sich diffuse Vorbehalte gegen liberale Geschlechterpolitik zu einer totalisierenden Weltsicht verfestigen, braucht es meines Erachtens vor allem theologisch andere Deutungsangebote.
"Gute Theologie weiß, dass ihre eigenen Sätze unter Vorbehalt stehen"
Welches theologische Argument spricht denn für eine Vielfalt von mehr als zwei Geschlechtern?
Heß: Ich denke, die Frage muss grundsätzlicher gestellt werden: Wie schauen wir theologisch überhaupt auf die menschliche Geschlechtlichkeit, egal in welcher Ausprägung? Was ist hier "Zeitgeist" und was "authentisch christlich"? Ist es zum Beispiel besonders "bibeltreu", Geschlechterfragen kulturkämpferisch derart aufzuladen, als ob die Kirche ausgerechnet mit ihnen stehe und falle? Oder schlägt da nicht eher die sehr moderne Vorstellung durch, das "wahre Geschlecht" sei der letzte Nagel in der Wand, an dem die Identität eines jeden Menschen hängt? Und mit ihr der Wunsch, in einer zunehmend säkularen Gesellschaft überhaupt noch einen Unterschied zu machen, der Aufmerksamkeit verspricht – nach dem Motto: "Sex Sells". Und wie "orthodox" ist tatsächlich die Idee, Heteronormativität sei eine von Gott für immer und ewig fixierte "Schöpfungsordnung"?
Was sagt die Bibel?
Heß: Die Bibel selbst sieht das jedenfalls anders. Sie kennt mindestens zwei Linien: eine, in der Zweigeschlechtlichkeit und Ehe einfach vorausgesetzt oder symbolisch aufgeladen werden. Und eine, in der beide radikal relativiert oder gar ganz infrage gestellt werden. Als Christgläubige bewegen wir uns alle, ob wir wollen oder nicht, zwischen dem "Männlich und weiblich schuf Gott sie" aus Genesis 1,27 und dem "In Christus ist nicht männlich und weiblich" aus Galater 3,28. Beides steht in unserer Heiligen Schrift. Auf beides kann man sich berufen. Aber keins von beidem kann man verabsolutieren. Gute Theologie weiß das. Sie glaubt, dass ihre eigenen Sätze unter dem Vorbehalt stehen, dass Gott ihnen noch recht geben muss. Sie inspiriert zur Liebe, nicht zum Hass. Und sie setzt auf die große Hoffnung, dass wir uns einst so erkennen werden, wie wir von Gott erkannt sind (1.Kor 13,12). Ja, dass Gott "jedem Samenkorn seinen eigenen Leib" schenkt (1.Kor 15,38).
Danke für das Interview!