Schild für Besucher mit angefügtem gegendertem, handschriftilchem ":innen" Zusatz.
© Marijan Murat/dpa /evangelisch.de (M)
Eine maskuline Sprache verhindert teilweise die Gleichbehandlung von Frauen und verdeckt zudem, dass im Neuen Testament auch Frauen zu den Jünger:innen und Apostel:innen gehörten.
Kolumne: Evangelisch kontrovers
Gendern: Maßvolle Fortschritte statt Kulturkampf
Immer wieder schlagen die Wogen in den Medien hoch, wenn es um das Thema Gendern geht. Gibt es auch gute christliche Gründe dafür, es mit der geschlechtergerechten Sprache nun so oder so zu halten? Dr. Alexander Maßmann, unser Ethik-Experte von der Universität Cambridge, nimmt Stellung.

Das Gendern bietet immer wieder Sprengstoff in öffentlichen Debatten. Die Deutschen lehnen geschlechtergerechte Sprache mehrheitlich ab, weil sie meinen, das Gendern kompliziert die Sprache zu sehr. Die Vorbehalte sind nicht aus der Luft gegriffen, aber ich möchte auch, dass unsere Sprache zu weniger Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern führt.

Was gegen das Gendern spricht

Kritiker:innen des Genderns führen genüsslich vor, wie das Gendern zu sprachliche Verrenkungen wie "Bürger:innenmeister:innen" oder "Innen-Architekt:innen" führt. Sowohl das Schriftbild, z.B. mit Binnen-Doppelpunkt, als auch die Pause in der Aussprache ("Leser:innen") wirken befremdlich. Dass sich "der Autor" "dem Leser" verständlich macht, ist dagegen kurz und knackig.

Was für das Gendern spricht

In diesen männlichen Formen seien Frauen "mitgemeint", heißt es dann generös. Doch Studien belegen: Wenn Lehrer oder sogar Kosmetiker nur in der männlichen Form erwähnt werden, denkt man auch überwiegend an Männer. Die Lesenden haben dagegen Männer wie Frauen vor Augen, wenn Texte ausdrücklich von Lehrerinnen und Lehrern sprechen. Die männliche Sprache verdeckt außerdem, dass im Neuen Testament auch Frauen zu den Jünger:innen und Apostel:innen gehörten (Apg 9,36; Röm 16,7 ).

Dass Sprache unsere soziale Realität prägt, ist das Argument, das oft fürs Gendern vorgebracht wird. Auch beim Wort "Chef" denken die meisten an einen Mann. Teils gibt das die wirklichen Verhältnisse wieder. Doch Sprache gestaltet Realität mit, anstatt sie nur neutral zu beschreiben. Der Sprachgebrauch beeinflusst unsere Annahmen darüber, welche Rollen für jemand angemessen sind. Und so trägt unsere männliche Sprache auch dazu bei, dass Frauen in Deutschland pro Arbeitsstunde im Durchschnitt 18% weniger verdienen als Männer. 

Natürlich wird sich die "gender pay-gap" nicht allein durch den inklusiven Sprachgebrauch schließen. Aber an der Sprache liegt es teilweise auch, dass Autobauer Sicherheitsmaßnahmen gerade für "Autofahrer" entwerfen und damit für Männer. Knautschzonen, Sitze und Airbags sind an die Körpermaße von Männern und weniger an die von Frauen angepasst. Weil das Design Männer als Standard behandelt, verletzen sich Frauen bei Autounfällen tendenziell stärker als Männer, mit einem höheren Todesrisiko.

Auch in der Medizin wurde herkömmlich für "den Patienten" geforscht, und neue Medikamente wurden traditionell an "den Probanden" getestet. Behandlungen sind oft auf Männer zugeschnitten. Außerdem werden Angestellte am Arbeitsplatz oft vor krebserregenden Substanzen geschützt, doch die Forschung zu solchen Risiken beschäftigt sich überwiegend mit Männern. Brustkrebs nimmt dagegen klar zu. Damit solche Missstände nicht immer wieder neu auftreten, müsste auch die Sprache aufhören, stets Männer als die Norm auszugeben.

Unsere Sprache ist ambivalent

Unsere Sprache ist für uns wie für Fische das Wasser. Weil sie uns so vieles ermöglicht, ist sie unsere zweite Natur – so selbstverständlich, dass wir sprachliche Einseitigkeiten wie das Ausschließen von Frauen oft kaum wahrnehmen. So nimmt man nicht den eingebürgerten Ausdruck, sondern den Veränderungswunsch als störend wahr. Gendern ruft auch deshalb Widerwillen hervor, weil Menschen eine Veränderung der Sprache als einen tiefen Eingriff in ihr Leben empfinden. 

Doch Sprache ist ambivalent. Sie ist das wichtigste Werkzeug des Menschen, sie kann Heimat sein, sie kann elegant sein. Oft ist sie aber auch ungerecht. Sie verbindet Menschen, aber sie trennt uns auch. Sprache ist "Spielraum", aber auch "Kampfplatz". In der Debatte ums Gendern geht es zwar auch um die Ästhetik, aber auch die Gewohnheit und die Aufrechterhaltung von traditioneller Macht spielen eine Rolle. All das ist Teil unserer Sprache.

Maßvolle Fortschritte statt Kulturkampf: ein theologisches Plädoyer
Für Christinnen und Christen sollte die Ambivalenz des menschlichen Lebens, und so auch der menschlichen Sprache, keine Überraschung sein. Eigentlich wissen wir, dass in unserem Leben etwas zerbrochen ist und nicht stimmt, aber wir wissen auch, dass wir unser Leben nicht einfach mit gutem Willen und ein paar praktischen (Gender-)Richtlinien heil und vollständig machen können. Dass wir unsere Hoffnung nicht auf uns selbst setzen, gehört zum Herzen des evangelischen Glaubens. 

Deshalb sollte es Christen auch einleuchten, dass weder ein Beharren auf der "guten abendländischen Tradition" noch ein "wokes" Reformprogramm unsere Sprache retten können. Manchmal wird etwa der Einsatz für die gute Sache moralistisch. Vor lauter Gendern-Müssen kommt es manchmal zu lachhaften Äußerungen, z. B. zu "Islamist:innen" in einer Bildunterschrift zu bärtigen Taliban. Andererseits sollten wir uns eingestehen, dass eine Sprache, die andere konsequent ausschließt, nur scheinbar schön und elegant ist. Der Kulturkampf ums Gendern ist sinnlos, weil er die Ambivalenz der Sprache ignoriert.

Sprachlicher Gerechtigkeit annähern

Diese Ambivalenz bedeutet aber nicht, dass alles beim Alten bleiben kann. Bemühen wir uns, die Sprache zumindest etwas gerechter handzuhaben. Wo das aber zu Sprachverrenkungen führt, darf man sich auch die Freiheit herausnehmen, es gut sein zu lassen. Nichts nötigt uns zu bloßer Konsequenzmacherei. Zwar ist noch zu diskutieren, wie auch die Nicht-Binären sprachlich repräsentiert werden. Aber immerhin haben Studien ergeben, dass Hörer selbst dann Männer wie auch Frauen vor Augen haben, wenn man einen Text nur inkonsequent gendert. Auch wenn wir vollkommene Gerechtigkeit in der Sprache nicht erreichen, wäre es ein Gewinn, wenn wir uns der sprachlichen Gerechtigkeit zumindest annähern