Wie fühlt sich ein Tabu an? "Wie ein undeutliches Spüren, dass man da nicht nachfragen sollte", sagt Josef Held. Für den 65-Jährigen hatte sein Familientabu einen Namen und eine dürre Jahreszahl: Marie Weindl, gestorben am 24.9.1940 in der Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein.
"Über die Oma ist in unserer Familie selten gesprochen worden", sagt Held. Sein Leben lang schleppte er das Geheimnis um die psychisch kranke Großmutter mit sich herum, bis er 2019 die Gewissheit hatte: Marie Weindl wurde von den Nazis am 3. September 1940 in der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz mit Gas ermordet. Um die Todesumstände zu verschleiern, war ihre Akte - wie viele andere - fingiert und quer durch Deutschland verschickt worden.
Jahrelang hatte Josef Held sich durchgefragt, von Archiv zu Archiv. In der Zentrale des Klinikums Haar, wo seine Großmutter von 1935 bis 1940 gelebt hatte, wimmelte man seine Bitte um Akteneinsicht noch im Jahr 2000 ab. Zehn Jahre später fand er den Namen seiner Oma erstmals schwarz auf weiß in einem Klinikverzeichnis der Regierung von Oberbayern. In die 30.000 Patientenakten zur sogenannten T4-Aktion, bei der die Nazis zwischen Januar 1940 und August 1941 mindestens 70.000 Menschen mit Behinderungen oder psychischer Krankheit ermordeten, erhielt nur die Generation der Kinder Einblick.
"Ich habe mich jahrelang gefragt, ob ich meine Mutter darum bitten soll", erinnert sich Held. Schlussendlich habe er es aber nie übers Herz gebracht, mit ihr, die ihre Mutter mit fünf Jahren zuletzt gesehen hatte, über die Ermordung von Marie Weindl zu sprechen.
Psychische Krankheit - bis heute ein Tabu
Erst nach dem Tod der Mutter 2019 zerbrach auch das Tabu. Josef Held nahm Kontakt auf zur Münchner Gedenkinitiative für "Euthanasie"-Opfer rund um die Historikerin Sibylle von Tiedemann. "Euthanasie" heißt übersetzt "schöner Tod" - bei den Nazis bedeutete das die grausame Ermordung von kranken, behinderten oder alten Menschen mittels Gas, Nahrungsentzug, Vernachlässigung oder Überdosierung. Insgesamt über 200.000 Menschen starben auf diese Weise, weil sie mangels Arbeitskraft fürs NS-System nicht mehr nützlich waren.
Die Historikerin Tiedemann hat seit 2011 für das NS-Dokumentationszentrum die Namen und Geschichten der Münchner Opfer des NS-"Euthanasie"-Programms recherchiert. 2015 gründete sie mit überwältigendem Zuspruch die Angehörigen-Gruppe. "Jeder achte Deutsche hat in seiner erweiterten Familie ein Euthanasie-Opfer", macht Tiedemann die Dimensionen klar. Psychische Krankheit sei noch heute ein Tabu - deshalb habe es viel Überzeugungsarbeit bei Angehörigen, Psychiatrieerfahrenen und Archiven gekostet, die Opfer beim Namen nennen zu können.
Ziel ist, Empathie zu wecken
Aber, betont Tiedemann: "Diese Menschen gehören zu uns. Sie hätten gewollt, dass man ihrer gedenkt als zu Unrecht Ermordeter - nicht als psychisch Kranker." Die Arbeit der Initiative hat vieles in Bewegung gebracht: 2017 erinnerte der Bundestag am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, erstmals an all jene, die durch das NS-"Euthanasie"-Programm ermordet worden waren. 2018 wurde das Archivgesetz geändert, so dass Nachfahren leichter Akteneinsicht bekommen.
Wer in den 1930er-Jahren an Geist und Seele erkrankte, hatte wenig Möglichkeiten: Entweder die Familie kümmerte sich oder - wenn das nicht mehr ging - man wurde stationär betreut. Medizinische Behandlung, therapeutische Angebote, Wohngemeinschaften für Betroffene? Fehlanzeige. "Die Leute waren nicht zur Strafe in den Einrichtungen, sondern weil sie draußen nicht leben konnten", erklärt Sibylle von Tiedemann. Sie versteht die Neugier heutiger Geschichtsinteressierter an den Diagnosen, doch ihr Ziel ist, Empathie zu wecken: "Wichtiger als die Frage, was der Mensch hatte, ist: Wer war der Mensch?"
"Man wollte die loswerden, die zu teuer waren"
Das zentrale Selektionskriterium für die NS-Ideologen war ohnehin nicht die Diagnose, sondern die Arbeitsfähigkeit. Wer nicht mehr in der Klinikküche, der Landwirtschaft oder der Wäscherei mithelfen konnte, war "unnütz". Kamen dann noch hohe Pflegebedürftigkeit oder auffälliges Verhalten hinzu, war das Todesurteil praktisch gefällt.
"Man wollte die Menschen loswerden, die zu teuer waren", sagt Tiedemann. Am 18. Januar 1940 ging der erste Transport mit 25 Menschen vom Klinikum Eglfing-Haar in eine Tötungsanstalt, wo die Menschen im Rahmen der berüchtigten T4-Aktion mit Gas umgebracht wurden. Dass da ein Mordprogramm lief, sei auch den Angehörigen bald klargeworden. Doch erst die Predigt des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen am 3. August 1941 stoppte das T4-Programm - nicht jedoch das Morden.
In der Folge hätten Anstaltsleiter die Kranken durch überdosierte Medikamente, durch Einstellen der Pflege oder wochenlange "Hungerkost" zu Tode gebracht. Die "Euthanasie"-Opfer seien "mit Abstand die zweitgrößte Opfergruppe nach den Juden", betont von Tiedemann - und das heutige Isar-Amper-Klinikum in Haar habe im Raum München nach dem KZ Dachau die meisten NS-Ermordeten zu verzeichnen. Dank der Akten könne man genau sagen, in welchem der Pavillons wie viele Menschen ermordet wurden.
Noch immer Forschungslücken
Sibylle von Tiedemann ermutigt Angehörige zu Nachforschungen: "Es gibt noch viele Akten." Und obwohl die Arbeit am Gedenkbuch für die Münchner "Euthanasie"-Opfer beendet sei, seien viele Fragen offen: Wurden alte, behinderte, kranke Menschen wirklich nur in staatlichen Einrichtungen getötet? Was passierte in kirchlichen Pflegeeinrichtungen oder in Altenheimen? "Das ist noch nicht systematisch erforscht", sagt die Historikerin.
Die letzte große Aktion der Gedenkinitiative vor Corona war eine Gruppenreise im Juni 2019 zur Gedenkstätte Hartheim. Josef Held war einer von 60 Mitreisenden: "Erstmals hat es eine Rolle gespielt, dass ich der Enkel meiner Großmutter bin", erinnert er sich. Ihren Namen in einem öffentlichen Rahmen laut auszusprechen, sei ihm schwergefallen. Doch er ist froh, ihr Schicksal jetzt zu kennen. "Die Beziehung zu den Familienangehörigen ist seither klarer - es gibt kein dunkles Geheimnis mehr im Raum", sagt er. Seine Großmutter habe jetzt ihren Platz in der Familie und in der Gesellschaft bekommen.