Niels Holle holt diesmal sogar noch weiter aus als Reihenschöpfer Holger Karsten Schmidt, den er bei seinen bisherigen Bucharbeiten für "Nord bei Nordwest" (mit Ausnahme von zuletzt "Canasta") gut vertreten hat: Natalja Soljenka (Jaschka Lämmert) war einst Jacobs’ Kollegin in dessen erstem Revier. Die beiden wollten zusammenziehen, doch dann ist die junge Frau beim Eignungstest für ein Sonderkommando aufgrund eines Herzfehlers ums Leben gekommen, davon war er zumindest bis heute überzeugt; aber nun ist sie wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht. Bevor sie verhaftet wird, kann sie ihm noch rasch das Versprechen abnehmen, er möge sich um den gemeinsamen Sohn kümmern.
Schon diese Ebene der Geschichte würde genug Stoff für einen fesselnden Film liefern, aber Holle setzt noch eins drauf: Wie sich rausstellt, ist Natalja in den späten Neunzigern vom Bundesnachrichtendienst engagiert und als Spionin nach Moskau geschickt worden, weil sie dank ihrer Wurzeln fließend Russisch sprach; dort ist sie offenbar aufgeflogen. Von all’ dem hat der BKA-Beamte (Ercan Durmaz), der die vermeintliche russische Kollegin Kurkowa (Marina Weis) nach Schwanitz begleitet, allerdings keine Ahnung, zumal alles seine Ordnung zu haben scheint: Laut Haftbefehl gehört Natalja zur einer Schleuserbande und hat einen Polizisten erschossen. Mit ihrer Festnahme ist der Fall jedoch nur dem Anschein nach abgeschlossen: Sie hat brisantes Datenmaterial kopiert. Kurkowas Auftrag ist erst erledigt, wenn sie den entsprechenden USB-Stick gefunden hat. Natalja muss ihr Schweigen mit dem Leben bezahlen. Dass die russische Agentin fern der Heimat anscheinend nach Belieben schalten und walten kann, kommt selbstredend nicht von ungefähr.
Neben der Neugier auf die Hintergründe lebt der Krimi nicht zuletzt von einer besonderen Qualität des Drehbuchs: Mit jeder Information, die Holle preisgibt, wird die Geschichte immer rätselhafter. Felix Herzogenrath, der bei "Canasta" nicht verhindern konnte (oder wollte), dass einige Mitwirkende den Film mitunter zur Klamotte machten, kann es sich bei seiner Umsetzung sogar leisten, abgesehen von einer Friedhofsschießerei auf die üblichen Spannungselemente zu verzichten; die zwanzigste "Nord bei Nordwest"-Episode ist trotzdem fesselnd. Diesmal bewegen sich sämtliche Ensemblemitglieder auf dem gleichen hohen Niveau, zumal auch die Nebenfiguren markant besetzt sind; Albrecht Ganskopf zum Beispiel holt viel mehr aus seiner kleinen Rolle als BND-Mitarbeiter raus, als eigentlich drin steckt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Gleiches gilt für die zwei jungen Gastdarsteller: Als Nataljas Sohn Ben (Justus Johanssen) nach Schwanitz kommt, muss Jacobs dem jungen Mann erst mal schonend beibringen, dass seine Mutter nicht mehr lebt. Die Nachricht, dass er sein Erzeuger ist, verschiebt er auf später. Ebenfalls gut geführt ist der jüngste Schauspieler: Zunächst scheint die Aufgabe des aufgeweckten kleinen Elias (Jona Truschkowski) allein darin zu liegen, in dem für die eigentliche Handlung nicht weiter wichtigen Nebenstrang mit Jacobs’ Praxispartnerin Jule Christiansen (Marleen Lohse) einen guten Eindruck zu hinterlassen, aber dann darf er sich um Nataljas Hund Masha kümmern; Krimifans ahnen natürlich, dass das Tier noch eine wichtige Rolle spielen wird. Das gilt auch für Herrn Hamit Heplevent. Die Frage, wie der BKA-Beamte, der aus seiner Verachtung der "Landpolzei" keinen Hehl macht, dem Kofferraum entkommen ist, in den ihn Kurkowa gesperrt hat, lässt Holle zwar unbeantwortet, aber zum Finale ist er rechtzeitig wieder da.
Sympathisch wie stets sind zudem die kleinen emotionalen Momente zwischen dem zentralen Trio: Hannah Wagner (Jana Klinge) bleibt nicht lange verborgen, dass Jacobs und Natalja einst mehr als nur die Kollegialität verbunden hat. Dass Ben anscheinend sein Sohn ist, ahnt sie zwar auch, aber in dieser Hinsicht hat Holle eine weitere Überraschung in petto. Fans der Reihe können sich außerdem darüber freuen, dass Haukes Hund Holly diesmal wieder mehr als bloß Mitläufer ist: Der Weimaraner (in Wirklichkeit ein Rüde) hat maßgeblichen Anteil daran, dass Ben dem Polizisten das Leben rettet.