Auch für Dmitrij P. bricht am 24. Februar 2022 eine Welt zusammen: Russische Truppen überfallen die Ukraine. "Ich hätte niemals gedacht, dass mein Heimatland Russland einen unabhängigen Staat angreifen würde", sagt der 41-Jährige aus Moskau. An Putins völkerrechtswidrigem Krieg gegen das Nachbarland will er sich nicht beteiligen.
Gemeinsam mit zwei Freunden und einem Hund ist er mit dem Auto über die finnische Grenze geflohen und mit dem Zug weiter über die dänische Hauptstadt Kopenhagen nach Deutschland zu Freunden nach München gefahren. Vor dem Auslaufen seines Touristenvisums reiste der Kriegsdienstverweigerer weiter nach Armenien und bemüht sich nun von dort aus um eine legale Einwanderung nach Deutschland. Asyl wolle er nicht beantragen, sagt er, er wolle in Deutschland in seinem Beruf als Filmemacher arbeiten.
Eigentlich habe er nach Kriegsbeginn in Russland bleiben wollen, erzählt der Moskauer. Schließlich habe er an "das gute Russland" geglaubt, den demokratischen Widerstand im Land. Doch sei er schockiert gewesen, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung die sogenannte Spezialoperation gegen die Ukraine unterstütze, sagt er. Mit der teilweisen Mobilisierung wehrfähiger Männer im vergangenen September sei ihm schließlich klargeworden, dass Putin seinen Krieg bis zum Ende kämpfen wolle. Er flüchtete aus Russland - auch, um sich einer möglichen Einberufung zum Kriegsdienst zu entziehen. Bei einer Rückkehr in seine Heimat drohen ihm und allen anderen russischen Männern, die den Waffendienst verweigern, Haftstrafen.
Beratung und Hilfe erhält der Russe von dem Verein "Connection" im südhessischen Offenbach. Die Organisation fordert ein Aufenthaltsrecht für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus Russland, aber auch aus der Ukraine und Belarus. Dieser Forderung schließt sich die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK) mit Sitz in Bonn an. "Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht", sagt auch Karl Kopp, Leiter der Europaabteilung der Menschenrechtsorganisation "Pro Asyl" in Frankfurt am Main.
Geflüchtete fürchten Verschlechterung
Rund 150.000 Männer im wehrfähigen Alter von 18 bis 60 Jahren seien seit Kriegsbeginn aus Russland nach Westeuropa geflohen, schätzt Rudi Friedrich, Geschäftsführer von "Connection". Rund 145.000 seien es aus der Ukraine. Mehr als 1000 Hilfsanfragen von Männern aus Russland, die nicht in den Krieg in der Ukraine ziehen wollen, hat "Connection" seit der russischen Teilmobilisierung erhalten.
Dmitrij P. hatte gehofft, in Deutschland als Kriegsflüchtling aufgenommen zu werden und hier in seinem Job arbeiten zu können, wie er sagt. Doch die Situation für geflüchtete Männer aus Russland habe sich verschlechtert, beklagt er. Diese hätten hierzulande nur geringe Chancen auf Asyl, glaubt er. Auch habe Deutschland damit begonnen, Männer aus Russland in jene europäischen Länder zurückzuschicken, in die sie zuerst eingereist seien.
"Pro Asyl" fordert humanitäre Visa
Das Bundesinnenministerium in Berlin betont, dass russische Deserteure, also Soldaten, die nicht kämpfen wollen, sowie Männer, die eine Einberufung in die Armee verweigern, in Deutschland Asyl beantragen können. "Sie erhalten im Regelfall internationalen Schutz", sagt Pressesprecher Sascha Lawrenz. Dennoch bleibe das Erteilen von Asyl eine Einzelfallentscheidung, jeder Antrag werde individuell geprüft.
Wer in Deutschland Asyl beantragen möchte, muss allerdings erstmal nach Deutschland einreisen können. "Was bislang fehlt, sind Fluchtwege für Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und Militärdienstentzieher", sagt Europareferent Kopp von "Pro Asyl". Die Bundesregierung sollte deshalb die deutschen Botschaften in Nicht-EU-Ländern anweisen, vermehrt humanitäre Visa für eine sichere Einreise nach Deutschland zu erteilen, fordert er.
Für die große Zahl der Militärdienstentzieher müsse es in Deutschland und Europa Lösungen bei der Gewährung von Asyl oder eines anderen Aufenthaltsstatus geben. "Diese Menschen haben sich einer etwaigen Rekrutierung entzogen, weil sie nicht bereit sind, sich an einem völkerrechtswidrigen Krieg zu beteiligen", sagt Kopp. "Deutschland darf sie nicht im Stich lassen."
Dmitrij P. hofft indes, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Die Weltgemeinschaft müsse der ukrainischen Armee für einen Sieg mehr Waffen liefern, fordert er. Andernfalls werde Russland unter dem Diktator Putin oder einem möglicherweise noch schlimmeren Nachfolger weitere Länder überfallen. Viele in Deutschland lebende Russen fühlten wegen des Krieges große Schuld und empfänden ihn als Schande, sagt er. "Trotzdem sagen uns Ukrainer: Wenn ihr klar gegen den Krieg eintretet, müsst ihr euch nicht schuldig fühlen."