Geschickt verknüpft Regisseurin Claudia Garde, die hier zudem als Chefautorin des Drehbuchteams (Martin Rehbock, Peter Furrer, Idee: Gerrit Hermans) fungierte, die Zeitgeschichte mit einem Familiendrama: Nach einem Au-pair-Jahr in England kehrt die zwanzigjährige Toni Schmidt (Mercedes Müller) mit einem anderen Blick auf ihre Heimat in die Bundeshauptstadt zurück. Mit der klassischen Frauenrolle als Hausfrau und Mutter kann sie sich ohnehin nicht mehr identifizieren. Ihr Vater (Juergen Maurer) vermittelt ihr eine Stelle als Fremdsprachensekretärin bei einem Freund. Tonis neuer Chef, Reinhard Gehlen (Martin Wuttke), leitet den Auslandsgeheimdienst, die "Organisation Gehlen", Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes (BND).
Damit wird sie für einen Mann interessant, der so etwas wie der Gegenspieler Gehlens ist: Otto John (Sebastian Blomberg), einst Widerstandskämpfer und nun Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), will das Land entnazifizieren, aber die Kriegsverbrecher und Massenmörder haben mächtige Verbündete in den höchsten Stellen. John gewinnt Toni als Informantin, was in letzter Konsequenz bedeutet, dass sie sich gegen ihren Vater auflehnen muss. Mitunter räumt Garde der familiären Ebene allerdings zu viel Platz ein, weshalb diese Passagen wirken, als habe die ARD ihr Publikum nicht mit zuviel Politik überfordern wollen. Als Vorbild diente mutmaßlich die ganz ähnlich konzipierte DDR-Serie "Weissensee".
Ungleich spannender und auch als dramaturgisches Konzept überzeugender ist die personelle Konstellation, denn Toni ist zwischen drei Vaterfiguren hin und her gerissen: Juergen Maurer versieht Gerd Schmidt mit der für ihn typischen düsteren Aura, zumal der Mann eine Schuld auf sich geladen hat, die seiner Frau (Katharina Marie Schubert) das weitere Zusammenleben unmöglich macht. Martin Wuttke gestattet dem sinistren Gehlen eine väterliche Freundlichkeit, die dem Strippenzieher sogar eine gewisse Sympathie beschert. Sebastian Blomberg ist der tragische Held der Geschichte, ein Don Quijote, der seine Mission nicht erfüllen kann, weil "Hitlers willige Vollstrecker" für den Kalten Krieg benötigt werden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Tonis "Väter" sind vielschichtige Persönlichkeiten, aber ihre Rollen sind klar verteilt: John ist in der Wahl seiner Mittel zwar nicht wählerisch, doch er verkörpert das Gute, Gehlen ist selbstredend der Antagonist. Bauunternehmer Schmidt schließlich ist geprägt von der alten Ideologie, repräsentiert jedoch vor allem den ökonomischen Aufschwung. Er will Deutschland wieder "groß machen" und steht damit für jene Teile der Gesellschaft, die anders als John kein Interesse an einer Wiedervereinigung von BRD und DDR, sondern einen europäischen Wirtschaftsraum im Sinn haben. Oder, wie es Wolfgang Berns (Max Riemelt), die fünfte zentrale Figur, formuliert: "Niemand will Frieden, damit lässt sich kein Geld verdienen."
John setzt seinen engsten Vertrauten als "Romeo" auf Toni an. Der Agent soll garantieren, dass die von Gehlen mittlerweile zur persönlichen Korrespondentin ernannte junge Frau das BfV zuverlässig mit Informationen versorgt, aber der Präsident hat keine Ahnung, dass Berns in eigener Mission unterwegs ist; bis zum Schluss bleibt offen, auf welcher Seite er wirklich steht. Mit Tonis Hilfe kommt er einer vermeintlichen bewaffneten Untergrundverschwörung auf die Spur, die der Serie dank der aufgeflogenen Aktion der "Reichsbürger" eine bizarre Aktualität verleiht. Sämtliche Spuren führen zur "Quelle des Bösen", wie John die Organisation Gehlen nennt.
Ausstattung und Kostüm sind wie bei allen TV-Produktionen dieser Art von großer Sorgfalt, die zeitgeschichtlichen Hintergründe detailliert recherchiert. Schon allein als Schlaglicht auf ein selten erzähltes Kapitel der bundesdeutschen Historie ist "Bonn" ein nicht bloß sehenswerter, sondern auch wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit, selbst wenn nicht alle Szenen als Beitrag zur Wahrheitsfindung durchgehen. Eine ausufernde Karnevalssitzung zum Beispiel verdankt ihre Existenz womöglich allein der Schlusseinstellung, als die zum "Alaaf!" emporschnellenden Arme verdächtig an den "Hitlergruß" erinnern.
Dass Garde bei einigen Dialogen in seltsam anmutende extreme Nahaufnahmen der Münder schwenkt, ist Geschmacksache, aber gerade angesichts der sonstigen Akribie klingen diverse sprachliche Modernismen völlig deplatziert. Davon abgesehen erklären ihre ausnahmslos sehenswerten letzten Arbeiten mit starken weiblichen Hauptfiguren, warum sie als Regisseurin ausgewählt worden ist: Das Spektrum reicht vom Sat.1-Thriller "Das Nebelhaus" (2017) bis zur vorzüglich gespielten Romanze "Verliebt in Valerie" (ARD 2019). Zuletzt hat sie "Ottilie von Faber-Castell" (ARD 2019) gedreht, ein aufwändig gestaltetes Porträt der Bleistiftfabrikantin; der Titelzusatz "Eine mutige Frau" könnte auch auf Toni gemünzt sein. Die ARD zeigt heute die Folgen 1 und 2. Die weiteren Episoden folgen morgen sowie am kommenden Dienstag. Die Serie steht komplett in der Mediathek.