Draußen auf dem Meer dümpelt eine verwaiste Segeljacht, an Land hat sich die junge Viviane mit einem Cocktail aus Alkohol und Tabletten das Leben genommen: zwei Ereignisse, die offenbar nichts miteinander zu tun haben. Aber das Boot gehört Hella Christensen (Barbara Auer), jener mittlerweile pensionierten Kollegin, mit der Hauptkommissar Simon Kessler (Heino Ferch) in den vergangenen Jahren mehrere rätselhafte Fälle gelöst hat, und natürlich kannte Hella den Teenager, denn in dem kleinen Ostseestädtchen Nordholm kennt jeder jeden.
Das macht die Ermittlungen für Auswärtige wie Kessler oder Hellas Nachfolgerin Lena Jansen (Isabell Polak) als Kripochefin von Nordholm so schwierig: Antworten finden sie nur mit Hilfe von "jemandem, der jemanden kennt", wie es der Polizist aus Hamburg formuliert. Der Tod des Mädchens interessiert ihn nicht weiter, aber Hella hat kurz vor ihrem Verschwinden eine undeutliche Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen, die auf ein Gewaltverbrechen schließen lässt. Weil es weder stichhaltige Hinweise noch eine Leiche gibt, ist er auf Jansens Unterstützung angewiesen, doch die hilft ihm nur, wenn er auch ihr hilft: Vivi ist von Charlotte Broder (Lilly Barshy) gefunden worden, der Tochter von Kesslers Freundin Silke (Anja Kling). Die Polizistin ist überzeugt, dass die 19jährige Charlotte mehr über Vivis Tod weiß, als sie zugeben will, und Kessler soll sie zum Reden zu bringen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das klingt nicht sonderlich aufregend, und in der Tat verzichtet "Die Frau im Meer" auf all’ jene Zutaten, die in vielen Krimis als vordergründige Spannungsverstärker dienen: Es gibt weder Verfolgungsjagden noch Thrillermomente. Allein die Musik sorgt im Hintergrund dafür, dass die Intensität durchgehend hoch bleibt; die Kamera (Gunnar Fuss) beschränkt sich aufs Beobachten. Die Handlung besteht größtenteils aus Dialogen, weil Kessler und Jansen versuchen, das Beziehungsdickicht zu durchdringen. Dennoch ist der Zweiteiler wie schon seine drei Vorgänger 180 Minuten lang fesselnd, weil die Rollen allesamt sehenswert besetzt sind. Bindeglied zwischen den beiden Fällen ist Vivis depressive Mutter (Ann-Kathrin Kramer). Sie ist Pflegerin in jenem Seniorenheim, in dem auch Hellas vor kurzem verstorbener Vater untergebracht war. Bei der Durchsicht der Abrechnungen hat die frühere Polizistin offenbar einen Sozialbetrug in großem Stil entdeckt, aber dann stellt sich raus, dass sie seit einiger Zeit ein inniges Verhältnis zum verheirateten Leiter (Stefan Kurt) des Heims hatte. An dessen Gefühlen für sie kann ebenfalls kein Zweifel bestehen. Seine Frau (Leslie Malton) wiederum ist unheilbar krank und schien es gutzuheißen, dass der Gatte schon mal für die Zeit nach ihrem Tod vorgesorgt hat. Also konzentrieren sich die Ermittlungen schließlich auf Hellas hochverschuldeten Schwager (Hary Prinz), denn Christensen senior hatte nicht etwa seine Lieblingstochter (Ulrike C. Tscharre), sondern Hella zur Alleinerbin bestimmt.
All’ das erklärt zwar immer noch nicht, warum sich die 15jährige Vivi das Leben genommen hat, aber auch hier gibt es Parallelen. Sämtliche Nordholm-Krimis waren vor allem Dramen, in denen es stets um zerrüttete familiäre Strukturen ging. Das ist in "Die Frau im Meer" nicht anders, ausnahmslos alle Figuren sind düster umwölkt, weil sie Sorgen oder Ängste haben, weshalb entsprechend viel Melancholie mitschwingt.
Außerdem sind sämtliche Beziehungen mindestens problematisch, viele sind vergiftet, einige sogar zerstörerisch; auch Silke und ihre Tochter haben sich nicht mehr viel zu sagen. Hier kommt eine weitere Ebene ins Spiel: Silkes Ex (Patrick von Blume) macht sich Hoffnungen auf ein Ehe-Comeback und ist bei den Begegnungen mit Kessler entsprechend reserviert. Diese Besetzung ist die einzige, die aus dem Rahmen fällt: Hauke Broder ist im ersten Zweiteiler der Reihe, "Tod eines Mädchens" (2015), von Jörg Schüttauf verkörpert worden. Das tote Titelmädchen war Charlottes Schwester Jenni; Lilly Barshy hat schon damals als Elfjährige mitgewirkt.
Die Filme funktionieren unabhängig voneinander, erfreuen aber regelmäßig durch kleine Insider-Hinweise: Charlottes Laptop-Passwort ist "Jenni2015". Ebenfalls wieder dabei ist Gustav Peter Wöhler als Hotelier, der in der ersten Geschichte zum Kreis der Verdächtigen gehörte und Kessler nun gegen Ende einen entscheidenden Tipp gibt. Gespielt ist das alles formidabel, gerade Leslie Malton versieht ihre Rolle mit großer Würde.
Heino Ferch wiederum, ohnehin ein Schauspieler, der keine große Gesten braucht, um größtmögliche Wirkung zu erzielen, agiert als Kessler womöglich noch sparsamer als sonst, weshalb die beiden einzigen Male, als sich der Kommissar den Anflug eines Lächelns erlaubt, umso effektvoller sind. Zwischen Ferch und "Nordholm"-Regisseur Thomas Berger, der seit dem zweiten Zweiteiler alle Drehbücher geschrieben hat, dürfte mittlerweile ein blindes Verständnis herrschen: Die beiden haben auch die heiteren "Allmen"-Krimis (ARD) gemeinsam gedreht. Den zweiten Teil zeigt das ZDF morgen.