epd: Frau Mittag, Sie wollen den 1. Januar gemeinsam mit anderen Minimalisten erstmals als "Internationalen Minimalismus-Tag" begehen. Was beabsichtigen Sie damit?
Jasmin Mittag: Wir stellen den Tag unter das Motto "Leben statt Konsumieren" und wollen damit ein Bewusstsein schaffen, wie sehr unser Leben gerade in den westlichen Gesellschaften von einem regelrechten Konsumzwang beherrscht wird - und wie unfrei uns das macht. Wir kaufen Kleidung, die wir nicht tragen, besitzen zahllose Dinge, die wir nicht nutzen. Wir arbeiten unentwegt, um uns noch mehr leisten zu können. Zugleich sorgen wir uns um unseren Besitz, haben Verlustängste. Und wir sind durch die Digitalisierung unentwegt und zunehmend mit Geräten und Kommunikation beschäftigt. Viele Menschen wünschen sich eigentlich ein ganz anderes, von diesen Zwängen befreites Leben, wissen aber nicht, wie sie das erreichen sollen. Diese Menschen wollen wir abholen.
Und wie?
Mittag: Wir wollen zeigen, dass der Schlüssel zu einem freieren und erfüllteren Leben in der Besinnung auf tiefere Bedürfnisse liegt: auf mehr selbstbestimmte Lebenszeit, auf Entschleunigung, auf mehr Einklang mit sich und anderen und auf einen achtsamen Umgang mit den eigenen Ressourcen - und denen der Umwelt. Ähnlich den Fastenaktionen bieten wir im Januar sogenannte Wegweiser an, bei denen Interessierte für einen Zeitraum von 11, 22 oder 33 Tagen Übungen zu einem minimalistischen Lebensstil absolvieren können. Dabei geht es darum, das eigene Konsumverhalten zu beobachten, sich auf die Erfüllung von Grundbedürfnissen zu fokussieren und exzessiven Konsum von Dingen, digitalen Medien, aber auch Lebensmitteln zu vermeiden.
Wie haben sie selbst ihr Leben "entrümpelt"?
Mittag: Ich beschäftigte mich seit 2015 mit dem Minimalismus und habe zunächst kleinere Dinge gemacht. Etwa meinen Haushalt auszumisten und meine Kleidung auf vier Farben zu reduzieren, damit alles zu allem passt. Außerdem habe ich einen Minimalismus-Stammtisch in Hannover organisiert und Workshops zu der unter vielen Minimalisten als eine Art Maßstab geltenden "Hundert-Dinge-Challenge" angeboten. Dabei geht es um das systematische Verkleinern des eigenen Besitzes, bis am Ende 100 Gegenstände übrig bleiben.
Mit Haut und Haaren bin ich dann 2019 eingestiegen. Ich habe all mein Hab und Gut in den Keller verbannt und es Stück um Stück in meine Wohnung - und mein Leben - zurückgeholt. Ich habe zunächst versucht, mit elf Dingen klarzukommen, aber die sind mit den notwendigen Kleidungsstücken schon fast erreicht. Ein Teller war zum Beispiel nicht mehr drin, also habe ich mich von Fingerfood ernährt (lacht). Ich merkte dann, dass schon so um die 50 Gegenstände notwendig sind, um die Grundbedürfnisse einigermaßen komfortabel abzudecken.
"Ich merkte, dass so um die 50 Gegenstände notwendig sind, um die Grundbedürfnisse einigermaßen komfortabel abzudecken."
Gibt es einen Gegenstand, der selbst bei der kleinsten Auswahl immer mit dabei wäre?
Mittag (präsentiert ein kleines lachsfarbenes Stofftier mit großen Augen und Stummelflügeln): Ja, "Icebat", meine Stofffledermaus! Die hat keinerlei praktischen Nutzen, aber hohen emotionalen Wert für mich. Sie repräsentiert meine alberne Seite und macht mir immer gute Laune - denn vor allem darum geht es beim Minimalismus. Minimalismus ist nichts Absolutes. Es geht um das Finden des richtigen Maßes, bei dem innere Freiheit, Spontanität und eine echte, auf Dankbarkeit und Genügsamkeit basierende Beziehung zur Mitwelt möglich sind. Minimalismus ist zugleich lebenspraktisch, emotional und spirituell!
Also erlaubt Minimalismus auch Dinge, die unter pragmatischen Gesichtspunkten eigentlich überflüssig sind?
Mittag: Klar. Ich bin auch nicht so dogmatisch und sage, dass man sich unbedingt auf 100 Gegenstände beschränken muss. Minimalismus inspiriert dazu, herauszufinden, was für einen selbst wirklich Bedeutung hat. Das sind mit großer Wahrscheinlichkeit keine Gegenstände. Die sind ja meistens nur Mittel zum Zweck und haben ja immer nur den Wert, den wir ihnen zuschreiben. Wenn es mich wirklich erfüllt, eine große Büchersammlung zu haben, spricht das nach meinem Verständnis nicht gegen ein minimalistisches Lebenskonzept.
"Minimalismus inspiriert dazu, herauszufinden, was für einen selbst wirklich Bedeutung hat."
Hat Ihnen der Minimalismus Erfahrungen ermöglicht, die ohne ihn womöglich nicht entstanden wären?
Mittag: Mein derzeitiger Besitz passt in zwei Handgepäckstücke. Ich habe meine Wohnung in Hannover aufgegeben, obwohl ich die Stadt liebe. Aber das Gefühl, beweglich zu sein, hat Lust aufs Reisen und Erkunden von anderen Wohn- und Lebensformen geweckt. Da ich nicht viel brauche, muss ich nicht viel Geld verdienen, und meine Arbeit - Podcasts, künstlerische Projekte und Beiträge für meine Website - ist nicht ortsgebunden. So habe ich im letzten Jahr unter anderem in Co-Living-Spaces in Mexiko, in einer Kommune in Portugal, in einer Schweigegemeinschaft in England und in einem Tiny House auf Bali gewohnt. Und jetzt gerade, mitten im deutschen Winter, kann ich vom sonnigen Thailand aus ein Interview führen. Diese Ortsunabhängigkeit ist ein Segen der Digitalisierung - bei aller Kritik vieler Minimalisten an ihren sozialen Auswüchsen.
Ist Minimalismus angesichts von Klimawandel und Ressourcen-Verschwendung auch ein politisches Konzept, gar ein Lösungsansatz?
Mittag: Ja, durchaus. Zwar setzt das Konzept beim individuellen "Entrümpeln" des eigenen Lebens an - aber die daraus resultierende Konzentration auf tiefere Bedürfnisse verändert den Blick auf größere Zusammenhänge radikal. Wer begriffen hat, dass ein bescheideneres Leben ein reicheres sein kann und die Menschheit eine große Gemeinschaft ist, wird den Überkonsum, die Ausbeutung von Arbeitskräften und die Zerstörung unseres Planeten nicht mehr akzeptieren. Würden das alle Menschen - oder zumindest die Mehrheit der Menschen - so empfinden und leben, würde kein Müll mehr in die Ozeane gekippt und kein Kleidungsstück mehr produziert, das am Ende niemand trägt. Die Welt wäre friedlicher und solidarischer - und es gäbe wahrscheinlich auch keine Kriege mehr.