Wärter auf dem Flur der Justizvollzugsanstalt Moabit in Berlin
© epd-bild/Juergen Blume (M)
10 Prozent aller Inhaftierten werden wegen Kleinkriminalität zu Geldstrafen verurteilt, die sie wegen Geldmangel in Ersatz-Freiheitsstrafen tageweise absitzen. Der Ethiker Alexander Maßmann hält dies für einen Missstand des deutschen Rechtswesens.
Kolumne: Evangelisch kontrovers
Ersatz-Freiheitsstrafen: Eine Reform ist nötig
Etwa 10 Prozent der Häftlinge in Deutschland wurden nie ausdrücklich zur Haftstrafe verurteilt. Sie sitzen Ersatz-Freiheitsstrafen ab. Eine Reform dieser Strafen ist notwendig, meint Alexander Maßmann – und das hat auch etwas mit Weihnachten zu tun.

Auch dieses Jahr ist es wieder in deutschen Gefängnissen zu einer Weihnachts-Amnestie  gekommen. Häftlinge, die ohnehin zu Weihnachten oder zwischen den Jahren aus der Haft entlassen werden sollten, lässt man schon vorher gehen. Denn wenn sie erst zu Weihnachten entlassen werden, stehen sie bei Ämtern und sozialen Einrichtungen vor verschlossenen Türen und geraten umso leichter wieder auf die schiefe Bahn.

Anlass genug, unser Justizwesen auch in einem anderen Zusammenhang unter die Lupe zu nehmen. Hier soll es um die sogenannten Ersatz-Freiheitsstrafen gehen. In Deutschland wurden knapp 10 Prozent aller Inhaftierten nie in einem eigentlichen Strafverfahren ausdrücklich zur Haftstrafe verurteilt. Sie wurden zu Geldstrafen verurteilt – oft aufgrund von Fahrten im Nahverkehr ohne Ticket, aber auch aufgrund von Kleinkriminalität, z.B. dem Ladendiebstahl. Typische Armutsdelikte. Da sie nun nicht zahlen können, wird die Geldstrafe in einem Verwaltungsakt in eine Haftstrafe umgewandelt. Das ist die Ersatz-Freiheitsstrafe: ein Haft-Tag für einen Tagessatz Geldstrafe. Das ist bemerkenswert, weil der Freiheitsentzug die härteste Strafe im deutschen Rechtsstaat ist. Ich halte die Ersatz-Freiheitsstrafen für einen Miss-Stand des deutschen Rechtswesens.

Das Leben der Ersatz-Strafler

Ersatz-Strafler sind oft Drogenabhängige, Obdachlose bzw. Menschen mit psychischer Krankheit. Ihre Geldstrafe müssten sie in Tagessätzen abzahlen, die bei ihnen auf bis zu 10 Euro reduziert werden. Doch bei Hartz IV bleiben für viele Menschen nicht einmal 10 Euro übrig.

Auf Antrag können die Schulden auch durch gemeinnützige Arbeit statt durch Haftzeit abgegolten werden. Doch viele Häftlinge sind unfähig zu einem strukturierten Tagesablauf. Durch Alkoholsucht oder psychische Schwierigkeiten sehen sie sich oft zu dieser Arbeit nicht in der Lage.

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Außerdem ist die Ersatzstrafe finanziell für die Behörden unverhältnismäßig. Viele arme Menschen müssen pro Tag eine Strafe von 10 Euro leisten. Die Inhaftierung kostet die Behörden dagegen ca. 150 Euro pro Tag.

Ersatz-Freiheitsstrafen sind oft nicht zu rechtfertigen

Man kann nun den Standpunkt einnehmen, dass sich die Delinquenten all das selbst eingebrockt haben. Das mag vielleicht in vielen Fällen so sein. Doch zumindest ein bestimmter Typus des Delinquenten zeigt, dass das oft keine sinnvolle Perspektive ist. Dafür nehme ich den Fall eines Drogenabhängigen – meist ist es ein Mann – der hin und wieder ohne Fahrschein fährt, um vom Arzt sein Methadon zu erhalten. Im Deutschlandfunk wurde solch ein Leben  eindrücklich dargestellt. Im Regen ist er für den längeren Weg auf den Bus angewiesen, und er kann sich das Ticket nicht jeden Tag leisten. Die Substitutionstherapie erlaubt ihm vielleicht gemeinnützige Arbeit, doch auf kurz oder lang wird er immer wieder zu Geldstrafen wegen Schwarzfahrens verurteilt. Wird das zu viel oder wird er arbeitsunfähig, wird er das Gefängnis nicht dauerhaft verlassen können.

Meine Ansicht ist, dass die Ersatzstrafe in diesem Fall nicht mehr zu begründen ist. Denn sie soll laut Gesetz der Resozialisierung und dem Schutz der Gesellschaft vor Straftaten dienen. Der Schwarzfahrer wird aber die Geld- und Haftstrafen nicht hinter sich lassen können, und die Kleinkriminalität – Schwarzfahren oder mögliche andere Gelegenheitsdelikte – werden nicht aufhören. Das Strafrecht zementiert vielmehr die Perspektivlosigkeit einer solchen Biographie.

Fahren ohne Ticket

Gewiss ist das Fahren ohne Fahrschein kein Kavaliersdelikt. Doch schon ein paar Male "erwischt" zu werden kann – über den Umweg der Zahlungsunfähigkeit – zur Haft führen. Dabei kann die ursprüngliche Schadenssumme mit dem Gegenwert von ein paar Fahrtentgelten deutlich unter 50 Euro liegen, aber zu wesentlich höheren Geldstrafen führen. Die überraschend harte Bestrafung liegt daran, dass Schwarzfahren seit der Nazi-Zeit nicht als Ordnungswidrigkeit, sondern als Straftat bewertet wird. 

Der Verzicht aufs Busfahren ist schwer etwa für diejenigen, die täglich Ersatzdrogen wie Methadon vom Arzt erhalten. Manche müssen aus anderen Gründen zum Arzt, Bewährungshelfer, Job-Center oder anderen Ämtern.

Erste Vorschläge

Dass die finanziellen Kosten der Ersatzstrafe unverhältnismäßig hoch sind, ist an sich noch kein Argument gegen sie. Denn es handelt es sich im Kern um einen rechtlichen und moralischen Konflikt und nicht um einen wirtschaftlichen. Die Strafe für das Unrecht muss vor allem auf der juristischen und moralischen Ebene sinnvoll sein. 

Sinnvoll wäre, die finanziellen Tagessätze noch deutlicher herabzusetzen. Eine Angleichung der Tagessätze proportional zur Wirtschaftskraft ist an sich gängige Praxis. Dem entgegnen die Fachjuristen, dass eine Strafzahlung durchaus noch weh tun müsse. Das ist nachvollziehbar, doch zu oft zeigt die Erfahrung, dass 10 Euro nicht nur eine harte, sondern eine unmögliche Forderung sind.

Der Sinn der Strafe – und Weihnachten

Beim gegenwärtigen Stand der Dinge ist der Sinn der Strafe der Dreh- und Angelpunkt des Problems. In vielen Fällen besteht der Sinn der Ersatz-Freiheitsstrafe faktisch allein in der Vergeltung. Es besteht oft keine Aussicht, dass der Delinquent langfristig auf die rechte Bahn zurückkehrt und die Gesellschaft vor Straftaten geschützt wird. 

Der Justizminister meint, der Rechtsstaat könne nicht ohne Sanktionen einfach hinnehmen, dass der Straftäter die Strafe nicht zahlt. Das mag so sein. Doch dieser Einwand zeigt die Hilflosigkeit des Rechtsstaats. Trotz aller Machtmittel kann er das Leben von Opfern und Tätern nicht mehr zum Besseren wenden. Stattdessen verharrt der Staat in einer Art Beißkrampf: Er konzentriert sich allein auf die nackte Vergeltung, und für einige Ersatz-Strafler besteht kaum mehr eine konstruktive Perspektive. Die Vergeltung  ist aber juristisch nur dann sinnvoll, wenn sie mit den Zielen der Resozialisierung und des Schutzes der Gesellschaft zusammenbesteht.

Christlich ist ein solches Prinzip der bloßen Vergeltung schon gar nicht. Es lässt sich debattieren, welchen Sinn die Vergeltung haben kann, wenn Aussichten auf Resozialisierung bestehen. Ohne eine solche Perspektive aber hat die nackte Vergeltung auch aus christlicher Sicht keinen Sinn. Gerade zu Weihnachten feiern Christinnen und Christen, dass Gott die Gemeinschaft mit dem Geschöpf sucht – gerade nicht, um zu strafen, sondern um zu retten.

Schlussfolgerung

Die Ersatzstrafe ist sehr problematisch. Aus christlicher Sicht – aber auch in einer breiteren moralischen und juristischen Betrachtung – ist es nicht haltbar, dass sich die Sanktion des Rechtsstaats in einem aussichtslosen Beharren auf Vergeltung erschöpft. Christinnen und Christen sollte das gerade zu Weihnachten einleuchten. An konkreten Maßnahmen wird derzeit eine Ermäßigung  diskutiert, mit der ein Haft-Tag zwei Tagessätze wett macht statt nur einen. Doch das wäre eher kosmetischer Natur. Eine Herabsetzung des Mindest-Tagessatzes – schon diesseits der Gefängnismauern – wäre sinnvoller. 

Doch bei Strafe ohne Hilfe kann es nicht bleiben. Delinquenten brauchen besondere Unterstützung dabei, die Geldstrafe in gemeinnütziger Arbeit  abzuleisten. Soll der Rechtsstaat aus seinem Beißkrampf der Vergeltung herauskommen, ist ihre zusätzliche sozialpädagogische Betreuung angezeigt. Das ist nicht nur biographisch viel sinnvoller, sondern sogar finanziell günstiger als eine Inhaftierung! Dasselbe gilt für den Vorschlag, den Nahverkehr für Drogenabhängige in Substitutionstherapie kostenlos zu machen, zumindest zu bestimmten Uhrzeiten. Menschen, die "rock bottom" erreicht haben, brauchen wieder eine Perspektive.