epd: Herr Schuster, Chanukka und Weihnachten überschneiden sich in diesem Jahr um wenige Tage. Haben Sie in Ihrer Familie auch Weihnachtstraditionen?
Josef Schuster: Ich erlebe Weihnachten seit meiner Kindheit bewusst. Wir haben hier in Würzburg zur Miete gewohnt und in dem Haus wohnte eine evangelische Familie. Diese Familie hat uns am Heiligabend nach dem Essen immer eingeladen. Meine Eltern und ich als einziges Kind haben mit der Familie dann zusammen Weihnachten gefeiert. Die Weihnachtstraditionen, Baum, Geschenke, Weihnachtslieder, sind mir also seit meiner frühesten Kindheit bekannt.
Heute ist das anders. Wir feiern kein Weihnachten. Aber der Atmosphäre der Weihnachtsstimmung will ich mich gar nicht entziehen.
Sehen Sie Chanukka als Lichterfest in diesem Jahr mit beklommenen Herzen entgegen?
Schuster: Wir haben eine ganze Menge Krisen erlebt. Aber das Besondere an Chanukka und auch an Weihnachten ist das Licht als Zeichen der Hoffnung. Und dieses Zeichen ist in Zeiten, wie wir sie im Moment erleben, ganz besonders wichtig. All die Krisen sollten nicht dazu führen, dass man die Bedeutung von Chanukka oder Weihnachten als klassische Familienfeste außer Acht lässt.
Wie spiegelt sich der Ukraine-Krieg in Ihren Gemeinden wider? Engagieren sich jüdische Gemeinden in der Versorgung ukrainischer Kriegsflüchtlinge?
Schuster: In den 90er-Jahren sind sowohl Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion als auch aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Deswegen gab es nach Ausbruch des Kriegs die Sorge, dass es zu Konflikten kommen könnte. Das ist in keiner Weise der Fall gewesen. Ich habe im Gegenteil erlebt, dass eine ganze Reihe derjenigen, die aus Russland gekommen sind, sich klar distanziert haben. Die Gemeinden haben die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine mit offenen Armen empfangen. Das waren nicht nur die jüdisch-ukrainischen Flüchtlinge, sondern auch nicht-jüdische. Denn in den Gemeinden gibt es viele Menschen, die Russisch oder Ukrainisch sprechen. Sie sind Wegweiser für die Geflüchteten und helfen bei der Integration.
"Die Gemeinden haben die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine mit offenen Armen empfangen."
Wie ist die Situation von ukrainischen Holocaust-Überlebenden, die nach Deutschland gekommen sind?
Schuster: Die Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland hat Menschen per Krankentransport aus den Kriegsgebieten evakuiert. In Würzburg haben wir zum Beispiel drei Holocaust-Überlebende aufgenommen. Hier wurden sie von einem katholischen Orden versorgt. Die Ordensschwestern waren vor der Schoah hier im jüdischen Krankenhaus tätig. Nach der Schoah haben sie im jüdischen Altersheim gearbeitet. Sie haben es als ihre Aufgabe gesehen, sich um diese Menschen zu kümmern.
Die Erfahrung dieser Menschen muss unendlich traurig sein…
Schuster: Unendlich traurig, aber sie sind auch unendlich dankbar.
Sie sind vor kurzem für eine dritte Amtszeit als Zentralratspräsident gewählt worden. Was motiviert Sie, dieses nicht einfache Amt weiterzuführen?
Schuster: Ursprünglich habe ich mich eher in der Pflicht gesehen. Ich habe das Gefühl, die jüdischen Gemeinden zusammenzuhalten und mich für ihr Gedeihen einzusetzen, ist eine wichtige Aufgabe. Wenn auch nicht alles vergnügungssteuerpflichtig ist, ist das Amt dennoch mit einer gewissen Befriedigung verbunden. Eine große Motivation ist für mich, die Eröffnung der Jüdischen Akademie in Frankfurt, die für das Frühjahr 2024 geplant ist, zu begleiten. Ich war bei diesem Prozess als Zentralratspräsident von Anfang an dabei.
"Ich habe das Gefühl, die jüdischen Gemeinden zusammenzuhalten und mich für ihr Gedeihen einzusetzen, ist eine wichtige Aufgabe."
Die Kirchen haben im vergangenen Jahr mehr als eine halbe Million Mitglieder verloren. Wie ist die Situation in den jüdischen Gemeinden?
Schuster: In den jüdischen Gemeinden gehen die Mitgliederzahlen vor allem aus demografischen Gründen zurück. Im Vergleich zu christlichen Kirchen haben wir aber kaum unter bewussten Austritten zu leiden. Das gibt es nur in einzelnen Fällen. Es ärgert mich auch, wenn Menschen, die in den 90er-Jahren aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gekommen sind, dann sehr gern die Leistungen der Gemeinde in Anspruch genommen haben und jetzt, wenn sie einen besseren Verdienst haben, mit dem Austritt Steuern sparen möchten.
Ist das der Hauptbeweggrund für den Austritt?
Schuster: Ja, das ist so. Aber die Bindungskraft der jüdischen Gemeinden ist immer noch stark. Der Zentralrat der Juden setzt sich dafür ein, dass junge Familien wieder an die Gemeinden herangeführt werden, etwa durch das sehr erfolgreiche Projekt Gemeindecoaching. Das gelingt am besten über den Kontakt zu Kindern und Jugendlichen.
Haben Sie einen Überblick, wie viele Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht Mitglied einer Gemeinde sind?
Schuster: Rund 95.000 sind Gemeindemitglieder. Ich schätze, dass etwa 50.000 in Deutschland lebende Juden keiner Gemeinde angehören. Darunter sind rund 15.000 Israelis, die in Berlin leben. Genau kann man es aber nicht sagen.
Ist Deutschland trotz der steigenden Zahl antisemitischer Angriffe ein Zuhause für Jüdinnen und Juden?
Schuster: Deutschland ist - Stand heute - trotzdem ein Zuhause. Aber: Ich habe schon das Gefühl, dass der ein oder andere auf dem Dachboden nachschaut, wo er den sprichwörtlichen gepackten Koffer, den er zwischenzeitlich ausgepackt hatte, hingestellt hat und ob er wieder griffbereit ist.
"Ich habe schon das Gefühl, dass der ein oder andere auf dem Dachboden nachschaut, wo er den sprichwörtlichen gepackten Koffer, den er zwischenzeitlich ausgepackt hatte, hingestellt hat und ob er wieder griffbereit ist."
Ist das bei Ihnen auch so?
Schuster: Würzburg beziehungsweise Deutschland ist meine Heimat. Ich persönlich zweifle daran nicht.
Sind jüdische Traditionen und Bräuche in der Gesellschaft bekannt genug?
Schuster: Nein, sicher nicht. Aber das Jubiläumsjahr 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland hat da schon etwas bewirkt. Es hat gezeigt, dass Feste wie Chanukka oder Pessach nichts Exotisches sind, sondern seit Jahrhunderten in der deutschen Kultur verankert sind. Es ist wichtig, dass Kinder schon im Kindergarten auch mit jüdischen Traditionen in Kontakt kommen.
"Es ist wichtig, dass Kinder schon im Kindergarten auch mit jüdischen Traditionen in Kontakt kommen."
Mit Blick auf das Jahresende 2022: Welche Rückschritte gab es beim Kampf gegen Antisemitismus?
Schuster: Was wir an purem Antisemitismus, aber auch israelbezogenem Antisemitismus in der Kulturszene erleben mussten, hat mich am meisten bestürzt. Dass die Weltkunstausstellung documenta trotz entsprechender Warnungen im Vorfeld mit offenem Antisemitismus aufwartet - in Deutschland im Jahr 2022 - hätte ich mir nicht vorstellen können. Ich zweifle auch daran, dass wir in der Kulturszene verstanden werden, wenn ich sehe, wie dort diskutiert wird.
Sind die christlichen Kirchen für Sie Alliierte im Kampf gegen Antisemitismus?
Schuster: Sie sind positiv eingebunden im Kampf gegen Antisemitismus. Wenn man die Historie der Kirchen ansieht, sind sie allerdings alles andere als unschuldig an entstandenem Antisemitismus, wenngleich sie nicht allein verantwortlich sind. Aber die evangelische Kirche in Deutschland und auch der Vatikan haben sich glaubwürdig von Antisemitismus distanziert.
Der bayerische Landesbischof und frühere EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm hat mal gesagt: Antisemitismus ist eine Sünde gegen Gott. Zugleich hängen an evangelischen und auch an katholischen Kirchen in Europa antijudaistische Darstellungen von Judensauen und es gibt Streit über den Umgang damit. Ist das christliche Engagement gegen Antisemitismus für Sie dennoch glaubwürdig?
Schuster: Wenn eine christliche Gemeinde heute im Jahr 2022 in einem Neubau eine solche Darstellung anbringen würde, wäre das für mich ein Skandal. Jetzt ist die Frage, wie man mit historischen Skulpturen verfährt. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man entfernt sie und bringt sie im Museum unter, oder man belässt sie an Ort und Stelle und versieht sie mit einer eindeutigen Hinweistafel, die auch ein Schuldbekenntnis enthält. Ich ziehe eine Entfernung vor, aber ich kann mit der Entscheidung leben, eine solche Darstellung zu belassen und sie mit einer Beschriftung zu versehen.