Landesbischof Meister hatte am Vorabend des Reformationstages bei einer Diskussion in Hannover gefordert, die judenfeindliche Schmähplastik an der Fassade der evangelischen Stadtkirche in Wittenberg nicht nur zu entfernen, sondern sie in einem symbolischen Akt zu zerstören.
Meister, der unter anderem in Jerusalem studiert hat und sich seit Jahrzehnten für die Aussöhnung mit dem Judentum einsetzt, ist auch Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), deren Synode an diesem Freitag beginnt.
epd: Herr Meister, zum Reformationstag haben Sie mit sehr scharfen Worten die Entfernung der sogenannten "Judensau" gefordert, einem antisemitischen Relief aus dem Mittelalter an Martin Luthers Predigtkirche. Da war von "vernichten, zerstören und kaputtmachen" die Rede. Woher diese Schärfe?
Bischof Ralf Meister: Ich selbst habe lange Zeit viel Verständnis dafür gehabt, dass man diese Plastik als Lernobjekt mit einer Texttafel versehen an der Fassade dieser Kirche belassen könnte. Aber in vielen Gesprächen mit Jüdinnen und Juden ist mir zunehmend klar geworden, dass dieses Objekt auch heute noch als extreme Diskreditierung und Diffamierung ihres Glaubens auf schäbigstem Niveau wahrgenommen wird. Allein schon die Bezeichnung, die wir dafür verwenden, ist eine massive und immer noch aktuelle antisemitische Provokation, die jeden gläubigen jüdischen Menschen zutiefst treffen kann. Es ist sozusagen eine lebendige Beleidigung. Bei allem Respekt dafür, wie differenziert die Gemeinde damit verfährt, sollte man überlegen, ob solche Objekte nicht nur entfernt, sondern einzelne dieser Objekte auch beispielhaft zerstört werden können.
Ist das eine neue Art des protestantischen Bildersturms?
Meister: Nein! Martin Luther war ja der Meinung, man könne bestimmte veraltete Bilder und Skulpturen als Lernobjekte akzeptieren. Aber man muss hier unterscheiden. Es gibt Objekte, die in einem historischen Kontext stehen und mit dieser Distanz der Geschichte auch so wahrgenommen werden. Doch dieses Objekt beleidigt Angehörige der jüdischen Religion bis heute in einer unglaublichen Weise.
"Wo gewöhnen wir uns daran, diese Objekte als befremdlich zu bezeichnen, sonst aber keine Konsequenzen zu ziehen?"
Um es klar zu sagen: Wir haben in unserem Land tausende und abertausende an Lernobjekten, an denen wir uns mit der unsäglichen Geschichte des Antisemitismus und des Antijudaismus auseinandersetzen können. Es geht mir nicht darum, das alles zu vernichten. Es geht darum, genau wahrzunehmen: Wo werden durch diese Objekte Menschen in ihrem Glauben heute zutiefst herabgewürdigt? Wo gewöhnen wir uns daran, diese Objekte als befremdlich zu bezeichnen, sonst aber keine Konsequenzen zu ziehen?
Aus der Sicht der Erbauer im Mittelalter war die Schmähplastik auch ein Ausdruck von Architektur und Kunst. Kann man das so einfach kaputtschlagen?
Meister: Ja. Ich weiß, dass eine solche Forderung einen lauten Aufschrei unter Denkmalpflegern, Historikerinnen und vielen anderen Menschen erzeugt, ich kann das auch verstehen. Und dennoch kann ich mir vorstellen, dass in einer zivilisierten, wachen und religionssensiblen Gesellschaft ein solcher Vorgang ein kraftvolles Zeichen sein kann. Eine Gesellschaft, die den Lernprozess der Erinnerungsarbeit durchgemacht hat und immer wieder durchmachen wird, kann auch einen Entschluss fassen, einige wenige, zutiefst beschämende materialisierte Beleidigungen der religiösen Existenz von Jüdinnen und Juden zu vernichten.
So ähnlich wie mit den Büsten von Marx und Lenin und anderen Relikten des Sozialismus, über deren Verbleib ja intensiv gestritten wird?
Meister: Mit schnellen Parallelisierungen werden wir der Sache nicht gerecht. Was ich beschrieben habe, kann man auf kein anderes Objekt beziehen. Hier geht es nicht darum, dass ein einzelner Mensch dargestellt wird. Sondern es wird ein Sachverhalt dargestellt, der in ekelerregender Weise mit einer zutiefst antisemitischen Schmähung unter Zuhilfenahme eines Tieres, das im Judentum als unrein gilt, Menschen in ihrem Glauben entwürdigt.
Die Wittenberger Kirchengemeinde hat beschlossen, die Plastik an ihrem Ort zu belassen und durch eine Texttafel zu einer Mahnstätte zu machen. Ist Ihnen das zu lasch?
Meister: Der Bischof der mitteldeutschen Kirche, Friedrich Kramer, hat es eindeutig gesagt: Eine Beleidigung bleibt eine Beleidigung - wie oft Sie es auch erklären.
Würde es nicht genügen, das Relief zu verhängen, durch ein Tuch oder so?
Meister: Warum?
Weil es aus der Geschichte zu uns überkommen ist.
Meister: Wenn Sie mit einem Denkmalpfleger reden und sich Gebäude aus dem 13. Jahrhundert anschauen, dann werden Sie die wenigsten unverwundet vorfinden. Dann werden Sie zahlreiche Ergänzungen, Erweiterungen, Abbauten, Umbauten, Teilabrisse, Neubauten darin entdecken. Wir kommen aus einer Menschheitsentwicklung, die Gebäude und Denkmäler überformt hat und sie darin radikal veränderte. Heute gibt es den Ansatz, dass man Dinge zwangsläufig in möglichst ursprünglichem Zustand erhalten möchte. Das würde ich aber eben nicht in allen Fällen absolut setzen.
Was haben Sie dagegen, diese Schmähplastik in ein Museum zu verfrachten? Wäre sie da nicht gut aufgehoben?
Meister: Warum soll ich eine Schmähplastik, die eine tiefe Beleidigung einer religiösen Überzeugung ausdrückt, dann noch für alle Leute im Museum ausstellen? Damit dann alle wissen: So haben wir das mit den Juden mal gemacht? Das kann man schon an Tausenden Objekten lernen, an unzähligen digitalen Darstellungen sehen, in Bildern, in Filmen, an Stolpersteinen und überall. Mir geht es darum, dass wir ernst nehmen, dass steingewordene Schmähungen bis heute Verletzungen bei Menschen auslösen. Es reicht dann aus meiner Sicht nicht aus, eine Erklärtafel aufzustellen. Und manchmal eben auch nicht, sie nur abzunehmen und ins Museum zu stellen.