Führende Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) haben in den vergangenen Wochen die Zustände im WM-Gastgeberland Katar kritisiert, die zögerliche Klimaschutzpolitik, das Elend der Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen. Was finden Sie daran verkehrt?
Michael Roth: Die Zustände, die kritisiert werden, sind sicherlich problematisch. Meine Frage ist, ob die primäre Aufgabe der Kirche darin besteht, dass kirchenleitende Personen Dinge sagen, die in ihrem Milieu sowieso Zustimmung finden, sodass der Verdacht aufkommt, dass es hier um etwas anderes geht - nämlich um eine gewisse Performance, um Selbstdarstellung. "Moral Grandstanding" nennt man das auch.
Ich kann mich an die Weihnachtspredigt eines früheren Ratsvorsitzenden erinnern, in der zu mehr Solidarität aufgerufen wurde, wie in den "Tagesthemen" berichtet wurde. Als ich das hörte, dachte ich: Ach da schau her. Ich hatte noch nie jemanden gehört, der irgendwann einmal "weniger Solidarität" gefordert hätte.
Sie kritisieren einen allgemeinen Trend zur Moralisierung, aber auch, dass die Kirchen bei diesem Trend ganz vorne mitmarschieren würden. Woran machen Sie das fest?
Roth: Die Kirchen klagen über sinkende Mitgliederzahlen und fragen sich, wie sie die Stellung der Institution Kirche stabilisieren und die Alimentierung ihrer Mitarbeiter sicherstellen können. In der modernen Gesellschaft ist es nun einmal so, dass die Moral die "letzte Religion" ist. Daher kommt wohl die Vermutung, die Religion müsse zur Moral werden, um gesellschaftlich noch eine Funktion zu haben.
"Wir brauchen Argumente und eine Kultur, die auf Argumente hört."
Historisch betrachtet haben die Kirchen von jeher eine klare Vorstellung darüber, was eine Sünde ist - und darauf fußt das Selbstbewusstsein, zwischen richtig und falsch unterscheiden zu können...
Roth: Die reformatorische Rede von der Sünde verdirbt den Spaß am Gut-und-Böse-Spiel, weil hier die Sünde als die große Gleichmacherin zur Sprache gebracht wird: Alle Menschen sind Sünder. Die Sünde besteht nicht in bestimmten Taten, sondern in einer Grundrichtung des Lebensvollzuges: in allem das Seine zu suchen. Dazu kann auch moralisches Auftrumpfen zählen, denn es ermöglicht besonders wirkungsvoll, sich über andere zu erhöhen. Da macht es keinen Unterschied, ob man sich in den 50er-Jahren über uneheliche Schwangerschaften empörte oder heute über Menschen, die keinen fair gehandelten Kaffee kaufen. Wichtig ist daher zu beachten: Über die Sünde zu reden, heißt nicht, über andere zu reden, sondern über sich selbst.
Die Kirchen genießen aber zumindest in Teilen der Gesellschaft nun einmal den Ruf, dass sie gewissermaßen eine Wegweiser-Rolle in ethischen und moralischen Fragen erfüllen.
Roth: Die Vorstellung, dass die Kirche im Besitz von ethischem Wissen ist, das sie der Gesellschaft mitteilt, ist immer wieder anzutreffen, aber meines Erachtens sehr problematisch. Das Hauptproblem besteht darin, dass die Kirche sich dann dem ethischen Ringen in der Gesellschaft entzieht und sich als mit einem übernatürlichen Wissen ausgestattete Instanz versteht. Wir brauchen weder jemanden, der sich rationalen Argumentationen mit dem Anspruch entzieht, prophetisch zu reden, noch jemanden, der sein Amt als Begründung für seine Position angibt. Wir brauchen Argumente und eine Kultur, die auf Argumente hört.
"Was die Kirchenleitung sagt, wird als Lobby-Arbeit wahrgenommen."
Schreckt die Positionierung zu tagespolitischen Themen Menschen eher ab oder sorgt sie doch eher für einen wärmenden Lagerfeuer-Effekt?
Roth: Ich vermute, dass es beides gibt. Für manche entsteht wohl damit eine gewisse Wohlfühl-Atmosphäre: Wir sind auf der Seite der Guten. Andererseits beobachte ich auch zunehmend das Gegenteil. Denken Sie an die EKD-Empfehlung zum Tempolimit auf der Autobahn. Danach habe ich sofort etliche Whatsapp-Nachrichten bekommen, deren Verfasser sich ausnahmslos darüber lustig machten. Menschen durchschauen moralisches "Grandstanding" immer stärker.
Das alles klingt so, als fänden Sie Positionierungen der Kirchen zu gesellschaftspolitischen Themen grundsätzlich überflüssig.
Roth: Ob die Kirche politisch sein sollte oder nicht, ist keine ernsthafte Frage. Natürlich sind Christinnen und Christen immer auch politisch. Aber es geht darum, ob die Kirchenleitung zu tagespolitischen Themen permanent etwas sagen sollte. Von den Theologen Reiner Anselm und Christian Albrecht stammt der durchaus überlegenswerte Vorschlag, dass sich zu gesellschaftlichen Fragen andere Christinnen und Christen äußern sollten als die Kirchenleitung - weil das, was die Kirchenleitung sagt, doch nur als moralische Lobby-Arbeit für die Institution wahrgenommen wird. Mir wäre es vor allem wichtig, dass Menschen erfahren: Man wird als Glied der Kirche nicht auf eine bestimmte politische Position festgelegt.
"Ich empfinde einige Stimmen als zu wenig selbstkritisch.
Kirchen hatten in der Vergangenheit doch immer dann besonderen gesellschaftlichen Zuspruch, wenn ihre Repräsentanten sich politisch ganz eindeutig positioniert haben. Ist das nicht die Lehre aus der Wende in der DDR oder Martin Luther Kings Kampf gegen die Rassentrennung in den USA?
Roth: Martin Luther Kings Kampf gegen die Rassentrennung war großartig, vor allem, weil er nicht auf gesellschaftlichen Zuspruch geschielt hat, sondern gegen den herrschenden Zeitgeist, auch gegen den kirchlichen war. In der Evangelischen Kirche in Deutschland glaubt man heute, man sei - anders als in den 50er-Jahren etwa - nicht mehr Establishment. Doch in Wahrheit hat sich einfach nur das Establishment verändert. In Deutschland waren evangelische Kirchen häufig eher Mitläufer.
Auch beim Umgang mit der Homosexualität haben sie übrigens keineswegs die Fackel vorangetragen, sondern immer die Schleppe hinterher. Daher empfinde ich auch einige kirchenleitende Stimmen zu Katar als zu wenig selbstkritisch. Sie sind getragen von einem neokolonialistischen Grundton, der westliche Überheblichkeit offenbart.
Welche gesellschaftlichen Anliegen wären es denn aktuell wert, dass die Kirche sich intensiv einbringt?
Roth: Die Funktion der Kirchen könnte darin bestehen, demokratische Meinungsbildung und Pluralität zu befördern. Dazu müsste sie die moralische Verteufelung und Feindbilder kritisch angehen, statt zu versuchen, eine bestimmte politische Position zu vertreten - und zwar die, die von ihrem Milieu erwartet wird. Eine christliche Position ist aufgrund der Einsicht in die Sündhaftigkeit aller Menschen weniger am Verurteilen und mehr am Verstehen anderer interessiert. Sie verzichtet darauf, Menschen in gute und schlechte aufzuteilen. An diese Dinge zu erinnern, fände ich wesentlich.