Wie Will Smith bei der Oscar-Verleihung die Fassung verlor, fand ich persönlich peinlich anzusehen. Auch in der moralischen Tradition haben Wut und Zorn oft einen schlechten Stand. Manchmal werden sie sogar pauschal als Sünde gebrandmarkt. Müssen wir uns also unsere Wut verkneifen? In diese Richtung scheint zunächst der Apostel Paulus zu weisen, wenn er an einer Stelle "Wutausbrüche" verurteilt (Galater 5,20). Doch an anderen Stellen verhehlt Paulus seinen eigenen Zorn keineswegs (Galater 3,1–3, Philipper 3,2). Was hat es also mit Zorn und Wut auf sich?
Alexander Maßmann wurde im Bereich evangelische Ethik und Dogmatik an der Universität Heidelberg promoviert. Seine Doktorarbeit wurde mit dem Lautenschlaeger Award for Theological Promise ausgezeichnet. Publikationen in den Bereichen theologische Ethik (zum Beispiel Bioethik) und Theologie und Naturwissenschaften, Lehre an den Universitäten Heidelberg und Cambridge (GB).
Die Biologie der Wut
Anscheinend sind Tiere manchmal wütend wie wir. Unser Körper hat entsprechende Botenstoffe und Hirnstrukturen gemeinsam mit anderen Säugetieren. Anscheinend werden sogar Oktopusse und Vögel manchmal wütend. Die Wut ist ein heftiges Gefühl, das oft mit einem unbeherrschten Gefühlsausbruch einhergeht. Etwas weniger impulsiv und stetiger ist der Zorn, der nicht unbedingt in Worte oder Taten mündet. Wut und Zorn sind der natürliche biologische Mechanismus, mit dem wir zugleich wahrnehmen, was uns dringend angeht, und einschreiten. In Wut und Zorn mobilisiert unser Leib die nötige emotionale und körperliche Energie, wenn jemand unsere Grenzen überschreitet.
Dass wir "blinde" Wut und Jähzorn dagegen moralisch kritisieren, liegt nahe, besonders wenn sie zur Gewalt führen. Schimpansen neigen manchmal zur "Aggressionsverschiebung" : Nach einer Auseinandersetzung mit einem Zweiten lässt ein Schimpanse seinen Frust an einem unschuldigen Dritten aus. In unserer komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaft gibt es natürlich noch mehr Gelegenheiten, solchen Affekten auf unsinnige Weise freien Lauf zu lassen – etwa den Briefträger anzupöbeln, weil er uns eine Rechnung bringt.
Ist der Zorn Sünde?
Der Katechismus der katholischen Kirche bezeichnet den Zorn sogar als eines der sieben Hauptlaster, also als eine Sünde, die zu weiteren Sünden führt (allerdings nicht als "Todsünde"). Das erläutert der katholische Katechismus an einer Stelle damit, dass der Zorn auf Rache aus ist. An anderen Stelle bezeichnet dieser Katechismus aber den Zorn pauschal und pointiert als Sünde, ganz ohne Erläuterung. Ist das gerechtfertigt?
Unter anderem bleibt unklar: Sollte schon das Empfinden von Wut Sünde sein oder erst das Handeln? Ist auch ein kleiner, privater Wutausbruch – z.B. über ein gestohlenes Fahrrad – einfach Sünde, auch wenn er durchaus nachvollziehbar ist? Und schließlich: Wie steht es mit dem Zorn, der einer guten Sache dient?
Kein Verbot
Wut und Zorn an sich zu verurteilen ist unsinnig und kontraproduktiv. Manchmal können Wut und Zorn sogar moralische Gefühle sein. Ich kann mir kaum Eltern vorstellen, die niemals Wut empfinden, wenn ihnen ihr Baby über Monate hinweg den Schlaf raubt. Hier einen Wutausbruch einfach zu verbieten, ist kontraproduktiv. Entlädt sich die Wut dagegen früh – z.B., indem man in ein Kissen boxt – wird man sich ihrer leichter bewusst und kann sie leichter "managen". Staut sie sich dagegen auf, weil man sie stoisch herunterschluckt, entlädt sie sich möglicherweise eines Tages am Kind. Zorn und Wut sind elementare Affekte, die sich nicht einfach verbieten lassen. Wer sich die Wut dagegen stets verkneift, lernt nicht, konstruktiv mit ihr umzugehen.
Zweierlei Maß
Tatsächlich wird die Wut zuletzt in verschiedenen Veröffentlichungen positiv gewürdigt. Wut kann uns mit unserem authentischen Selbst in Verbindung bringen und unsere moralischen Energien freisetzen. Kritiker könnten – ein wenig einfallslos vielleicht – einwenden, dass man Konflikte besser ruhig und mit Überlegung angeht. Hier sind aber zwei Dinge zu bedenken. Unsere Gesellschaft gestattet es Männern – Wutbürgern und Populisten etwa – immer wieder, ihr Mütchen zu kühlen. Wenn Greta Thunberg dagegen die Klima-Worthülsen der Politiker angreift mit der empörten Frage "How dare you?" ("Wie wagen Sie es nur?"), witzeln Spötter, sie fange jetzt einen dritten Weltkrieg an. Hier werden Männer und Frauen mit zweierlei Maß gemessen.
Emotion, Verhalten und Nachdenken verstärken sich wechselseitig
Außerdem stimmt etwas nicht mit dem Menschenbild, das die emotionale, biologische Empörung gegen den kühlen Verstand ausspielt. Wissenschaftliche Studien haben bestätigt: Menschen, die sich auch emotional über Missstände aufregen, helfen auch eher den Benachteiligten. Wer dagegen kaum eine emotionale Reaktion zeigt, engagiert sich auch seltener praktisch. Der Grund dafür, dass wir manchmal kühl und analytisch über moralische Konflikte sprechen, besteht gerade darin, dass wir uns an anderer Stelle emotional und leiblich aufregen. Die Wut dient der rationalen moralischen Reflexion genau so, wie das Gehen und Laufen dem räumlichen Orientierungsvermögen im Geist dient. Zwar kann man sich auch oft ohne die leibliche Bewegung geistig im Raum orientieren, doch das eine dient dem anderen, und ganz ohne das eine gibt es auch das andere nicht. Aus philosophischer Sicht hilft die Aufregung dem praktischen Einsatz außerdem, in der Fülle der Wahrnehmungen intuitiv das Wesentliche vom Irrelevanten zu unterscheiden. Im Gegensatz dazu dient eine pauschale Verurteilung des Zorns dem, was die Psychologie "system justification" nennt, der stillschweigenden Billigung der Dinge, wie sie nun einmal sind.
Schlussfolgerung
Wut und Zorn darf man nicht pauschal moralisch verurteilen. Natürlich nehmen sie mit Jähzorn und Gewalt verschiedentlich Formen an, die durchaus zu kritisieren sind. Um das zu vermeiden, muss man aber lernen, mit der Wut umzugehen. Dazu muss man die eigene Wut anerkennen, um sie schließlich in sinnvolle Bahnen zu lenken. Wer Wut und Zorn dagegen verbietet, macht gerade das unmöglich. Die Verurteilung von Wut und Zorn als Sünde bringt dagegen das Resultat hervor, das sie vermeiden sollte. Dass der Apostel Paulus vereinzelt "Wutausbrüche" verurteilt, seine Empörung dagegen an anderen Stellen durchaus zum Ausdruck bringt, ist aus dieser Perspektive also gut verständlich.