Der Krimi musste raus aus der Stadt. Die Anzahl der TV-Morde, die in den letzten fünfzig Jahren seit dem ZDF-Klassiker "Der Kommissar" (ab 1969) allein in München begangen worden sind, dürfte in die Tausende gehen. Also ist das Fernsehen irgendwann die Provinz ausgewichen, und prompt zeigte sich, dass es einen besonderen Reiz hat, wenn sich Verbrechen in idyllischen Landschaften ereignen; der ORF hat auf Grundlage dieser Erkenntnis mit den wechselnden Schauplätzen seines "Landkrimis" gar eine eigene Marke geschaffen. Gerade im ZDF wird die jeweilige Region ausdrücklich auch im Titel genannt: "Spreewaldkrimi", "Erzgebirgskrimi" und natürlich "Die Toten vom Bodensee". Im besten Fall erzählen die Drehbücher Geschichten, die in der Gegend verwurzelt sind, und deshalb bleibt der 15. Fall für das Team von der deutsch-österreichischen Stelle zur Kriminalitätsbekämpfung zweierlei schuldig: Der Bodensee ist allenfalls mal im Hintergrund zu sehen, und die Handlung könnte sich genauso im Bayerischen Wald oder in der Sächsischen Schweiz zutragen. Interessant ist sie trotzdem, erst recht, als klar wird, dass Micha Oberländer und Hannah Zeiler (Matthias Koeberlin, Nora Waldstätten) erst einen alten Fall lösen müssen, um einen aktuellen Mord aufzuklären.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der Film beginnt mit einem düsteren Prolog: Ein Wolf streunt durch den Wald, ein Junge malt wie besessen finstere Bilder, in denen goldgelbe Augen bedrohlich leuchten, ein Mann rüstet sich zur Jagd mit der Armbrust, der Vollmond taucht die Nacht in ein bleiches Licht. Die Gestaltung des Auftakts taugt allerdings nur inhaltlich als Ouvertüre. Die weiteren 85 Minuten spielen zwar nicht gerade ausnahmslos im Sonnenschein, doch bis auf wenige Ausnahmen, in denen es ein bisschen gruselig wird, ist "Unter Wölfen" weitgehend familientauglich. Die eigentliche Handlung beginnt mit dem üblichen Leichenfund: Der Jäger ist in eine Grube mit angespitzten Pfählen gestoßen und aufgespießt worden. Weil in unmittelbarer Nähe mehrere Hochsitze angesägt worden sind, führt die erste Spur zu einem militanten Tierschützer, der schon einmal mit dem Opfer aneinandergeraten ist. Auch ohne größere Krimierfahrung ist diese Ebene jedoch rasch als obligate falsche Fährte zu erkennen, zumal ausgerechnet Oberländers 14 Jahre alte Tochter Luna (Fiona Katharina Neumeier) an den Sabotageaktionen beteiligt war. Viel interessanter ist der zweite Handlungsstrang: Das Waldstück gehört der alten Schafzüchterin Ruth Lamprecht (Elfriede Schüsseleder). Seit einiger Zeit streunt ein Wolf durch die Gegend, er hat bereits mehrere Tiere gerissen, aber das lässt sie seltsam kalt. Über der Familie liegt ohnehin ein Schatten, seit Enkelin Antonia vor fünf Jahren spurlos verschwunden ist. Die Mutter des Mädchens, Melanie (Cornelia Gröschel), betreibt mehr schlecht als recht eine Pension, hier ist auch der Jäger abgestiegen.
Eine besondere Rolle spielt Antonias älterer Bruder, er ist der Junge aus dem Prolog, und Christian Theede, der mit exakt dem gleichen Team auch die letzte Bodensee-Episode ("Das zweite Gesicht") inszeniert hat, wird gewusst haben: Mit der Besetzung dieser Figur entscheidet sich die Glaubwürdigkeit nahezu des gesamten Films, denn Timmy spricht seit fünf Jahren nicht mehr. Der Regisseur brauchte also einen jungen Darsteller mit entsprechend ausdrucksstarkem Gesicht, und Jeremy Miliker erweist sich als vorzügliche Wahl. Der ansonsten solide, aber auch etwas spannungsarm inszenierte Film lebt ohnehin vom guten Ensemble, vor allem jedoch von der mit einigen Überraschungen aufwartenden Geschichte, die sich mehr und mehr zum Familiendrama wandelt: Timmy ist mit der kleinen Schwester davon gelaufen, weil sich die Eltern (Steve Windolf spielt den Vater) lautstark gestritten haben; im Wald hat sich dann offenbar ein traumatisches Ereignis zugetragen, das dem Jungen buchstäblich die Sprache verschlagen hat. Mit einer effektvollen Parallelmontage zwischen damals und heute, als Timmy während einer erneuten Auseinandersetzung ein Déjà-vu erlebt, sorgt Theede dafür, dass sich die Verzweiflung des Jungen perfekt nachvollziehen lässt.
Gerade im Vergleich zu den lebensnah erzählten Vater/Tochterszenen mit den Oberländers wirkt die Nebenebene mit Zeilers Beziehungsproblemen allerdings erneut wie ein Fremdkörper, zumal im Leben der Motorradfahrerin ganz offenkundig kein Platz für einen Sozius ist, wie auch ihre eindrucksvollen Begegnungen mit dem Wolf verdeutlichen. Wölfe sind eigentlich Rudeltiere, aber dieser hier scheint eher einzelgängerisch veranlagt zu sein; wie die Kriminalinspektorin aus Bregenz.