Eine Initiative für die mittelfristige Umwandlung der militärischen in eine rein zivile Sicherheitspolitik scheint nicht in eine Zeit zu passen, die vom Krieg in der Ukraine beherrscht wird. Warum es dennoch gerade jetzt sinnvoll ist, sich mit Alternativen zur militärischen Friedenssicherung auseinanderzusetzen, erklärt der Koordinator der Initiative "Sicherheit neu denken" der Evangelischen Landeskirche in Baden, Ralf Becker in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst.
Der Friedensethiker und Ökonom hat gemeinsam mit Experten ein Szenario entwickelt, nach dem unter anderem die Bundeswehr bis 2040 in eine internationale Polizei und ein internationales Technisches Hilfswerk umgewandelt werden soll. Deutschland würde dann jährlich 70 Milliarden Euro in die zivile Friedenssicherung investieren und Europa eine Wirtschafts- und Sicherheitspartnerschaft mit Russland und asiatischen Staaten betreiben. Becker spricht am 4. November auf Einladung des evangelisch-lutherischen Sprengels in Osnabrück.
epd: Herr Becker, ist Ihre Vision angesichts des Krieges in der Ukraine und der Waffenlieferungen, die sogar von einstigen Friedensaktivisten befürwortet werden, nicht utopisch?
Ralf Becker: Es ist in der Tat herausfordernd, unsere Vorstellungen in die Debatte einzubringen. Aber mittlerweile wird unsere Initiative von mehr als 150 Organisationen getragen. Wir haben Kontakte in die Parteien und zu zahlreichen führenden Verteidigungs- und Außenpolitikerinnen auch des neuen Bundestags. Wir glauben, dass aufgrund der weltpolitischen Lage der Druck automatisch zunehmen wird. Wenn wir uns die sich verselbstständigende Klimakatastrophe ansehen, wissen wir, dass wir uns mittelfristig mit unserem Nachbarn Russland wieder ins Benehmen setzen müssen. Es wird also mit zunehmender Zeit immer dringlicher, auch über diesen Krieg hinauszuschauen.
Können Sie Beispiele für Ideen nennen, die Sie in die Debatte einbringen?
Becker: Man könnte den Krieg beenden, wenn man differenzierte Lösungsmöglichkeiten ins Auge fassen würde. Die Ostukraine und die Krim könnten zum Beispiel völkerrechtlich weiterhin zur Ukraine gehören, aber einen weitgehenden Autonomiestatus bekommen. Der würde auch russisch als Amtssprache umfassen und weitere Eigenständigkeits-Symbole. Dann könnten sich beide Seiten als Gewinner dieses Krieges darstellen.
Sind Sie auch international mit Politikern über solche Lösungsmöglichkeiten im Gespräch?
Becker: Wir sind sehr viel im Gespräch mit afrikanischen Politiker:innen und Vertretern der Zivilgesellschaft. Die haben einen ganz anderen Blick auf den Ukraine-Konflikt. Sie sehen ihn als Teil einer Großmachtkonkurrenz zwischen den USA, Russland und China. Sie wollen sich nicht einseitig positionieren, sondern dringen auf Friedensverhandlungen. Wir als Initiative bauen gerade in Afrika ein größeres Netzwerk auf, unter anderem mit Vertreter:innen von Unterorganisationen der Afrikanischen Union, aber auch von Polizei, Kirche und Zivilgesellschaft. Wir arbeiten mit Schwesterorganisationen in Großbritannien, in den Niederlanden, Italien, der Schweiz und in Österreich zusammen.
Sie sehen also durch die derzeit eskalierende Situation weltweit sogar noch größere Chancen, Ihre Visionen durchzusetzen?
"Wenn wir noch jahrelang in dieser militärischen Kriegslogik bleiben, dann erreichen wir weder die Klimaziele noch irgendeine Pandemiebekämpfung."
Becker: Auf jeden Fall. Wir sehen bei jedem Vortrag, dass wir in diesen dunklen Zeiten hoffnungsvolle Wege aufzeigen. Die sind vielleicht kurzfristig schwer vermittelbar. Aber wir sind fest davon überzeugt, dass wir mit der Zeit immer mehr Gehör finden werden. Denn es gibt schlicht und ergreifend keine Alternative. Wenn wir noch jahrelang in dieser militärischen Kriegslogik bleiben, dann erreichen wir weder die Klimaziele noch irgendeine Pandemiebekämpfung.
Wie passen in Ihre Visionen autokratische Herrscher wie in Russland, Nordkorea oder China?
"Autokraten sind nicht durchgeknallt, sondern kühl berechnend."
Becker: Wir vermeiden das Zeichnen eines Schwarz-Weiß-Bildes. Autokraten sind nicht durchgeknallt, sondern kühl berechnend. Kim Jong-Un in Nordkorea oder auch Wladimir Putin wollen einen Dialog auf Augenhöhe mit dem Westen. Der wird ihnen bislang aber verwehrt. Wir sind fest davon überzeugt, dass auch mit Präsident Putin zu reden ist, wenn wir die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zum Verhandlungsthema machen.
Wie sehen Sie denn die akute Lage in der Ukraine. Ist es sinnvoll, weiter Waffen zu liefern?
Becker: In unserer Initiative gibt es dazu sehr unterschiedliche Stimmen, genauso wie in der Politik und in der Bevölkerung. Ich persönlich bin für diese Waffenlieferungen. Ich glaube, dass es jetzt, wo der Krieg begonnen hat - was man hätte verhindern können - tatsächlich sinnvoll ist, Präsident Putin dieses Zeichen der Stärke entgegenzusetzen.
"Sehr schnell könnte eine Schwelle überschritten werden. Dann werden wir zur aktiven Kriegspartei oder der Krieg weitet sich zu einem Atomkrieg aus."
Allerdings ist es unsere Aufgabe als Kirche und als Initiative "Sicherheit neu denken", auf die Risiken aufmerksam zu machen. Sehr schnell könnte eine Schwelle überschritten werden. Dann werden wir zur aktiven Kriegspartei oder der Krieg weitet sich zu einem Atomkrieg aus. Deshalb führen wir weniger die Diskussion um Waffenlieferungen, sondern dringen darauf, dass die langfristigen Interessen aller Konfliktparteien in Verhandlungen eingebracht werden.
Wie kann das gehen?
Becker: Wir sehen, dass laufend Verhandlungen gelingen, zur Lieferung von Getreide und zum Austausch von Gefangenen. Darauf gilt es aufzubauen. Zentral ist, dass wir Präsident Putin Verhandlungen über den zukünftigen militärischen Bündnisstatus der Ukraine zugestehen. Es gibt bereits Verhandlungsinitiativen, zum Beispiel von der Afrikanischen Union, die sich auch als Mediatorin angeboten hat. Wir wissen auch aus den deutschen Regierungsparteien, dass nicht öffentlich weiter Verhandlungsbemühungen laufen. Wir müssen raus aus der aktuellen Eskalationsdynamik - dafür versuchen wir in wöchentlichen Gesprächen mit Spitzenpolitikerinnen zu sensibilisieren. Wir haben nie eine Garantie, dass das funktioniert. Die hat aber die militärische Konfliktbearbeitung auch nicht.