Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine bestimmt nun schon seit über sieben Monaten die Nachrichten. Grundsätzlich gefragt: Wie verhält es sich aus christlicher Sicht mit dem Einsatz militärischer Gewalt, und soll Deutschland der Ukraine Waffen liefern?
Zu Weihnachten feiern Christinnen und Christen die schutzlose Geburt Jesu Christi in einem Stall, und am Karfreitag gedenken wir der Kreuzigung eines Mannes, der bei Festnahme und Hinrichtung keine Gegenwehr leistete. Damit spricht aus christlicher Sicht viel gegen den Einsatz von Gewalt.
Andererseits bejahen die meisten das Recht der Ukraine, sich zu verteidigen. Mit Waffen aus dem Westen hat die ukrainische Armee verhindert, dass russische Soldaten noch mehr Zivilisten misshandeln und ermorden als etwa in Butscha geschehen.
Das Neue Testament ist zwar sehr kritisch gegenüber der Gewalt, doch das Lukasevangelium hält den Kriegsdienst für vereinbar mit dem christlichen Glauben. Dort fordert Jesus außerdem die Jünger zur Selbstverteidigung auf. Die Bergpredigt dagegen lehnt Gewalt auch zur Selbstverteidigung ab: Christen sollen ihre Feinde lieben, so wie Gott den Guten wie den Bösen Sonne und Regen schenkt. Laut Paulus dagegen segnet Gott die Guten wie die Bösen nicht gleichermaßen: Gott habe dem heidnischen Imperium "das Schwert" verliehen, damit es Übeltäter mit Gewalt straft.
Alexander Maßmann wurde im Bereich evangelische Ethik und Dogmatik an der Universität Heidelberg promoviert. Seine Doktorarbeit wurde mit dem Lautenschlaeger Award for Theological Promise ausgezeichnet. Publikationen in den Bereichen theologische Ethik (zum Beispiel Bioethik) und Theologie und Naturwissenschaften, Lehre an den Universitäten Heidelberg und Cambridge (GB).
In den heutigen Verhältnissen demokratischer Mitbestimmung sind Christinnen und Christen mitverantwortlich für den Schutz der Mitmenschen. Sie dürfen es also nicht mehr als höhere Gewalt ertragen, wenn der Nächste Unrecht leidet. Im Konfliktfall muss der Staat um des Rechts willen Gewalt anwenden, wenn andere Mittel ausgeschöpft sind. Unter Umständen gilt das auch international. Denn wer Unrecht nicht ahndet, ermuntert zur Gewalt. Der begrenzte staatliche Einsatz von Gewalt soll weitere Gewalt verhindern – im Namen der Bürger:innen, die hier mitverantwortlich sind. Den Menschen der griechisch-römischen Antike dürften solche Verhältnisse einfach nicht vorstellbar gewesen sein.
In letzter Konsequenz verweigert sich der Radikalpazifismus der Mitverantwortung für die Durchsetzung des Rechts. Wo solche Mitverantwortung ohnehin unmöglich ist – wie in weiten Teilen der Antike oder auch im autoritären Regime der DDR – ist der Radikalpazifismus sinnvoll, ja imponierend. Im heutigen Europa aber denken wir in einem anderen Rahmen über Gewalt nach, angesichts der zivilgesellschaftlichen Mitverantwortung für Recht und Frieden. Unsere politischen Verhältnisse sind nicht die der Bergpredigt, in der Gott zwar allen Sonne und Regen schenkt, Christen sich aber in das Recht des Stärkeren fügen müssen.
Bergpredigt ist nicht 1:1 anzuwenden
In der Frage, was die urchristliche Tendenz zur Gewaltfreiheit heute für Christinnen und Christen bedeutet, können wir biblische Texte wie die Bergpredigt nicht 1:1 anwenden. Christen sind berufen, sich gegen Gewalt einzusetzen, für Frieden und Recht. Doch unter Umständen kann auch in dieser christlichen Perspektive der Einsatz militärischer Gewalt im Namen des Rechts angezeigt sein.
Nun wurde gesagt, dass Deutschland keine Waffen liefern solle, die sich gegen Russland richten würden – gegen ein Land, das Nazi-Deutschland 1941 in einem grausamen Vernichtungskrieg angriff. Doch fügte Deutschland damals auch der Ukraine schwerstes Leid zu. Daraus folgt aber nicht ein moralisches Patt: Historische Schuld nötigt uns keineswegs, klarem Unrecht heute tatenlos zuzusehen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist solches großes Unrecht.
Verblendete Kollaboration mit Schurkenstaat
Von deutschen Verfehlungen muss aber noch in anderem Sinne die Rede sein. Noch nach Putins Annexion der Krim 2014 hat Deutschland bis zuletzt vom Geschäft mit Russland profitiert. Doch dass Putin sich nicht Recht und Demokratie zuwenden würde, war spätestens seit 2014 offenkundig. Selbst angesichts von wiederholtem russischem Staatsterrorismus machte sich Deutschland in der Energieversorgung weiterhin von Russland abhängig. Auch die vielfachen Warnungen der Verbündeten wollte sich die Regierung nicht zu Herzen nehmen. Eine solche verblendete Kollaboration mit einem Schurkenstaat widerspricht der deutschen historischen Verantwortung. Wir Bürgerinnen und Bürger, einschließlich der Pazifisten, haben weitgehend darin versagt, zur Prävention von Gewalt deutlich gegen die deutsche Russland-Politik zu protestieren.
Deutschland hat über acht Jahre lang gegen besseres Wissen Russlands Kriegskasse gefüllt. Auch dieser Verfehlung muss sich Deutschland angesichts des Ukraine-Kriegs stellen. Nun auf einem Radikalpazifismus zu bestehen, käme effektiv einer Unterstützung Russlands gleich. Zugleich verstärkt von günstigem russischem Gas zu profitieren wäre vollends indiskutabel. Vielmehr ist Deutschlands tatkräftige Hilfe gefordert, einen Aggressor in die Schranken zu weisen, den wir zuletzt allzusehr unterstützt haben.
Kritisch zu erörtern wäre, ob es dazu der direkten Lieferung von Kampfpanzern in die Ukraine bedarf und wie man am besten Russlands nuklearer Drohung begegnet. Außerdem ist noch die Frage nach weiteren Konsequenzen für die evangelische Ethik offen. Wenn man den Radikalpazifismus ablehnt, ist noch nicht geklärt, wie man im einzelnen über Krieg und Frieden denkt. Jenseits des Radikalpazifismus hat sich ja die EKD für eine Friedensethik ausgesprochen, die die traditionelle Lehre vom gerechten Krieg ablehnt. Diese Frage - Friedensethik oder gerechter Krieg? - möchte ich in der kommenden Woche diskutieren.