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2. November, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Kalt"
15, 16, 17: alle da. Kathleens Kita-Gruppe macht heute einen Spaziergang in die winterliche Natur, und es gehört zu den Vorschriften, dass die Kinder regelmäßig gezählt werden müssen.

Normalerweise sind es 15, aber heute sind zwei aus einer anderen Gruppe dabei. Das hat die Erzieherin ihrer Kollegin Miriam auch laut und deutlich mitgeteilt. Später wird Miriam aussagen, sie habe das nicht gehört. Noch mal zählen: 13, 14, 15 – 15? Tatsächlich, zwei fehlen, und nun erlebt Kathleen ein Trauma, das sie den Rest ihres Lebens begleiten wird. 

Geschichten über Kinder, denen schlimme Dinge widerfahren, werden zumeist aus der Perspektive der Eltern erzählt; oder aus Sicht eines Ermittlungsteams, das eine Straftat aufklären soll. In diesem bedrückenden Drama mit dem sachlich schlichten, aber vollkommen zutreffenden Titel "Kalt" geht es jedoch nicht um ein Verbrechen, zumindest nicht im landläufigen Sinn. Trotzdem droht Kathleen eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung, denn sie hatte als Gruppenleiterin die Verantwortung. Als der Film beginnt, hat sich das traurige Schicksal bereits ereignet. Was passiert ist, bleibt zunächst jedoch offen. Die Kamera begleitet die Erzieherin (Franziska Hartmann), die wie versteinert wirkt, auf dem Heimweg vom Unfallort. 

Erst nach und nach formen sich die Bruchstücke zu einem Bild: Die kleine Jenny wollte nachschauen, ob Biber Winterschlaf halten, und ist mit Nico zum Fluss gelaufen. Der Junge ist ertrunken, das Mädchen liegt im Koma. Es ist fraglich, ob Jenny je wieder aufwachen wird; und ob dann überhaupt noch etwas von ihr übrig sein wird. Stephan Lacant (Regie) und Michael Kotschi (Kamera) haben die Rückblenden auf besondere Weise gestaltet: fahl und grobkörnig, wie eine Erinnerung, die bereits verblasst. Auch die Gegenwart, in der Kathleen prompt zur Persona non grata wird, ist betont kühl und farblos. Immer wieder schießen der Erzieherin die Bilder vom Ausflug durch den Kopf, immer wieder fragt sie sich, wie ihr das passieren konnte, schließlich hatte sie die Kinder ständig im Blick: 15, 16, 17 – alle da. Nico wohnt in der Nachbarschaft, er und ihr eigener Sohn haben viel miteinander gespielt, was das Unglück für seine Mutter Melanie (Patricia Aulitzky) umso unverständlicher macht: Ein Kind, das man kennt und das man mag, das muss man doch nicht zählen! Da kriegt man doch mit, wenn es plötzlich nicht mehr da ist!

Franziska Hartmann war schon in dem ZDF-Drama "Sterne über uns" (2020) formidabel; sie spielte darin eine Frau, die ihre Wohnung verliert und mit ihrem Sohn in den Wald zieht. Mittlerweise ist sie so etwas wie eine Expertin für komplexe Charakterstudien. Ähnlich herausragend war sie in "Tödliche Flut" (2021); in dem "Tatort" mit Wotan Wilke Möhring und Franziska Weisz verkörperte sie eine Journalistin, die sich als einzige Zeugin einer vermeintlichen Verschwörung in einem Graubereich zwischen Wahn und Wirklichkeit bewegte. In "Kalt" erweist sie sich erneut als hervorragende Besetzung, weil sich dank ihrer Leistung unangenehm gut nachvollziehen lässt, was in Kathleen vor sich geht. Eine kurze Szene könnte gar aus einem Psychothriller stammen, als die Erzieherin mit Melanie spricht. Die Mutter des ertrunkenen Jungen wirkt in ihrer tiefen Trauer völlig ausgebrannt und zu keinen Emotionen mehr fähig, bis sie plötzlich doch noch wütend wird; aber in dieser kurzen Einstellung sitzt dort nicht Melanie, sondern die zornige Kathleen. Nicht minder gruselig wirkt die Mutter, als Kathleens Sohn sie besuchen kommt und sie den Jungen anschaut, als wolle sie ihn umbringen, damit Kathleen spürt, wie es sich anfühlt, ein Kind zu verlieren. 

Eine weitere Schlüsselrolle spielt Anne Ratte-Polle als Ermittlerin. Die Polizistin verurteilt die Erzieherin nicht, sie lässt sich geduldig und empathisch den Ablauf des Spaziergangs schildern. In der Sache hat Kathleen jedoch nicht mit Milde zu rechnen: Die betroffenen Eltern haben Strafanzeige gestellt. Als sich ihr buchstäblich im Traum offenbart, dass sie während des Spaziergangs eine Minute lang abgelenkt war, kommt mit der Erkenntnis dieses Momentversagens eine neue Farbe in die Geschichte: Ihr Mann (Bozidar Kocevski) beschwört sie, dieses Detail für sich zu behalten und etwaige Beweise zu vertuschen. Er besorgt ihr eine Anwältin (Deniz Orta), die sie auffordert, Hinweise zu sammeln, die Jenny belasten. Nun steckt Kathleen zusätzlich zu ihrem Trauma auch noch in der Zwickmühle: Folgt sie ihrem moralischen Kompass, muss sie womöglich ins Gefängnis. Neben den filmischen und den darstellerischen Qualitäten sorgt auch dieser Aspekt für Anteilnahme: Wie würde ich mich entscheiden? 

Der Pädagoge Hans-Ullrich Krause ist Mitglied der Geschäftsführung des Kinderhauses Berlin Mark Brandenburg und Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen; für sein Drehbuch zu dem ARD-Drama "Der Fall Bruckner" mit Corinna Harfouch als Frau vom Jugendamt, die selbst zu einem Fall wird, hat er 2015 den Grimme-Preis bekommen. Regisseur Lacant hat zuletzt die ZDF-Serie "Der Überfall" (2022) und in früheren Jahren schon einige bemerkenswerte Eltern/Kind-Geschichten gedreht, darunter "Toter Winkel" (2017), ein Drama mit Herbert Knaup als Familienvater, der zufällig rausfindet, dass sein Sohn rechtsradikal ist, oder "Für meine Tochter" (2018), ein Drama mit Dietmar Bär als verwitweter Vater, der ins syrische Kriegsgebiet reist, um seine Tochter zurückzuholen.