Wenigstens einmal die Woche schließt Manfred Steinke die kleine Pforte rechts neben dem Hautportal der Margarethenkirche am Gothaer Neumarkt auf. Dann steigt er die 109 Stufen bis hinauf in die Kammer, in der das mechanische Uhrwerk aus dem Jahr 1907 laut vor sich hin tickt. "Die evangelische Kirchengemeinde will die Uhr im Original erhalten und hat sich bewusst gegen einen elektrischen Aufzug entschieden", sagt Steinke, während er die große Kurbel ansetzt. Seit fast 30 Jahren zieht er das Uhrwerk der ehemaligen Firma Weule aus dem niedersächsischen Bockenem bei Hildesheim regelmäßig auf.
Der Verzicht auf elektrische Unterstützung im Kirchturm sei ganz im Sinne der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), sagt Kirchenamtsrat Marcus Schmidt, Referent für Läuteanlagen und Turmuhren bei der Landeskirche. Die Kirche verstehe sich nicht nur als Eigentümerin der technischen Denkmale, sondern auch als Denkmalpflegerin. "Originalität ist immer am besten", sagt Schmidt.
Solange es Ehrenamtliche wie Manfred Steinke gebe, sollte auf elektrische Aufzieh-Hilfen für die Uhrwerke verzichtet werden. Zudem: Wo sich einmal pro Woche ein Mensch auf den Weg hoch in den Turm mache, blieben auch Schäden etwa in der Dacheindeckung oder im Holzgebälk nicht unbemerkt, betont er.
Die EKM verfügt etwa über 4.000 Kirchen in Thüringen und Sachsen-Anhalt. In der Mehrzahl der Sakralbauten sind mechanische Zeitmesser oder vereinzelt auch moderne Funkuhren verbaut. Aber längst nicht jede Uhr im Kirchturm gehört auch der Kirche.
Zu Zeiten, in denen kaum jemand eine eigene Uhr besaß, boten die Kirchen mit ihren Turmuhren nicht nur geistliche Orientierung im Tagesablauf. Weil damals die Grenzen der politischen und der Kirchgemeinden oft identisch waren, haben viel Orte die Chronometer in den Kirchtürmen bezahlt oder mitfinanziert. Und solange diese Eigentumsverhältnisse nicht verändert wurden, sind die Kommunen bis heute für die Uhren-Wartung verantwortlich.
Doch keine Regel ohne Ausnahme, zumindest in Ostdeutschland: In all jenen Fällen, in denen politische Gemeinden von alters her zu Unterhalts-Zahlungen an die Kirche - so auch für den Betrieb der Uhren - verpflichtet waren, endete diese Verpflichtung mit dem deutschen Einigungsvertrag. So wollte beispielsweise das südthüringische Hildburghausen nach der Wiedervereinigung nicht mehr für St. Wigbert inklusive Turmuhr im Ortsteil Häselrieth zahlen.
Eine Klage der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde dagegen verwarf das Bundesverwaltungsgericht 2008 in letzter Instanz. Laut Begründung ist die beklagte Kommune Hildburghausen "als Gebietskörperschaft originär neu errichtet worden". Die Stadt sei nicht mit der bis 1957 existierenden Gemeinde Häselrieth identisch, noch sei sie deren Rechtsnachfolgerin: "Aus dem (...) Einigungsvertrag ergibt sich kein genereller Übergang von Verbindlichkeiten auf neue Rechtsträger." (AZ: BVerwG 7C1.08) Seitdem haben die Kirchgemeinden keinen Anspruch mehr auf kommunale Zuschüsse auf Basis solch alter Verträge.
Allerdings würden weiterhin viele Kommunen auf freiwilliger Basis zahlen, sagt EKM-Referent Schmidt. Und wo nicht, halte die Kirche die Uhren auf eigene Kosten am Laufen. Schon in ihrer landeskirchlichen Bauordnung habe sich die EKM zum Erhalt der Turmuhren verpflichtet: "In einer zunehmend säkularisierten Welt hängen die Emotionen der Menschen doch immer noch an den Gebäuden, den Glocken und den Uhren", sagt Schmidt: "Das ist ein Pfund, mit dem Kirche unbedingt wuchern sollte."
In der Gothaer Magarethenkirche teilen sich Kirche und Stadt das Eigentum am Turm, die Uhr aber gehört schon immer der Kirche. Und so wird Manfred Steinke in dieser Woche noch zweimal den Turm hinaufsteigen. "Samstagabend halte ich das Uhrwerk gegen 19 Uhr Sommerzeit an. Und Sonntagmorgen um sieben Uhr Winterzeit bringe ich es wieder zum Laufen", sagt der 73-Jährige. Der kleine Trick falle nur auf, weil damit auch der Stundenschlag aussetze. Ansonsten sei es so dunkel, dass die Uhr von unten gar nicht zu sehen sei.