Das weiß-gelb gestrichene Gebäude im rheinland-pfälzischen Bad Salzig sieht aus wie ein ganz normales Wohnhaus. Doch am 8. April 1942 spielte sich hier eine Tragödie ab. 23 Juden, die in dem damaligen Hotel "Zum Schwan" interniert waren, wurden von den Nationalsozialisten in Vernichtungslager deportiert. Rund 80 Jahre später kniet dort auf dem Bürgersteig ein Mann mit Cowboyhut, in Jeanshemd und Cargohosen: Gunter Demnig verlegt einen Stolperstein, der mit einer Aufschrift an die 23 Opfer erinnert.
Am 27. Oktober wird der Künstler 75 Jahre alt. Seit Mitte der 90er-Jahre widmet sich der gebürtige Berliner, der heute im hessischen Alsfeld-Elbenrod lebt, seinem Stolperstein-Projekt. "Ich fahre im Jahr 50.000 bis 60.000 Kilometer, um die Steine zu verlegen", sagt er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die knapp zehn mal zehn Zentimeter großen Würfel verlegt Demnig auf den Gehwegen vor den letzten Wohnstätten von Menschen, die von den Nationalsozialisten deportiert, ermordet oder in den Suizid getrieben wurden. In Messingplaketten auf den Steinen sind Name und Schicksal der Opfer eingraviert.
"Die Stolpersteine haben sich mittlerweile zu einem anerkannten Medium der Erinnerungskultur entwickelt", erklärt der Potsdamer Historiker Thomas Schaarschmidt, der sich wissenschaftlich mit dem Projekt beschäftigt hat. Was als Kunstaktion begann, sei zu einer "Laiengeschichtsbewegung" geworden.
Denn die Initiative zu den Steinverlegungen geht inzwischen von Geschichtsvereinen, Bürgerinitiativen, Angehörigen oder auch Schulprojekten aus, die Demnig anfragen. 120 Euro kostet ein Stein inklusive Verlegung.
Vor allem Schüler beschäftigten sich im Unterricht oft intensiv mit Opfer-Schicksalen, sagt Demnig: "Die bekommen dann einen ganz anderen Bezug zur Geschichte, als wenn sie ein Buch aufschlagen." Oftmals spürten die Initiatoren der Steinverlegungen auch Nachkommen der Opfer auf. Da fänden dann bei der Verlegung des Steins regelrechte Familienzusammenführungen statt, erzählt Demnig.
Er erinnert sich besonders an zwei Schwestern, die sich 60 Jahre lang nicht gesehen hatten. Auf der Flucht aus Nazi-Deutschland habe es eine nach Kolumbien, die andere nach Schottland verschlagen. "Da standen sie dann vor dem ehemaligen Wohnhaus und sagten: ‚Jetzt sind wir wieder mit unseren Eltern zusammen.‘ In solchen Momenten, weiß ich, wofür ich das mache."
Demnig studierte in den 60er und 70er-Jahren Kunstpädagogik, Industrial Design und Freie Kunst in Berlin und Kassel. Die Initialzündung für die Stolpersteine kam für ihn während eines Projekts über die Deportation von Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten in Köln, Demnigs damaligem Wohnort. 1990 druckte er mit einer Walze auf die Straße eine Schriftspur, die den Weg vom Internierungslager bis zum Deportations-Bahnhof in Köln-Deutz nachzeichnete.
"In der Südstadt sprach mich eine ältere Dame an, offenbar Zeitzeugin, die behauptete: ‚Hier bei uns im Viertel haben doch niemals Zigeuner gelebt‘", erinnert sich Demnig. Danach habe er beschlossen, die Verbrechen des Nationalsozialismus sichtbar zu machen. "Ich wollte die Namen dahin zurückbringen, wo das Grauen angefangen hat."
München lehnt Stolperstein-Projekt ab
Die ersten Stolpersteine verlegte Demnig noch ohne Genehmigung und gegen den Widerstand der Stadtverwaltungen in Köln oder Berlin. Doch mittlerweile werden die Aktionen in der Regel von den Kommunen abgesegnet. Es gibt allerdings Ausnahmen. München etwa lehnt das Projekt ab. Die Stolpersteine haben auch Kritiker, wie zum Beispiel einzelne Vertreter jüdischer Organisationen. Die Schicksale der Opfer würden im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten, warf zum Beispiel Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Demnig vor.
Thomas Schaarschmidt vom Potsdamer Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung hält die Stolpersteine hingegen für einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur. Sie zeigten jungen Leuten heute noch eindrucksvoll, wie der Nationalsozialismus funktioniert habe. "Dadurch, dass sie überall dort vor der Haustür verlegt werden, wo Menschen abgeholt und deportiert wurden, machen sie deutlich, dass Nationalsozialismus und Verfolgung überall waren."
Monatlich 700 Steine in 30 Ländern verlegt
Ein Ende des Projekts, das als das weltweit größte dezentrale Mahnmal gilt, ist nicht in Sicht. "Ich hatte naiverweise gedacht, irgendwann müsste das weniger werden, aber die Nachfrage ist ungebremst", erklärt Demnig. Im vergangenen Jahr habe er drei neue Mitarbeiter eingestellt. Bis zu 700 Steine verlegten er und sein Team monatlich in mittlerweile 30 Ländern. Dennoch gebe es eine Warteliste.
Mit 75 Jahren würde er gerne ein wenig kürzertreten, sagt Demnig. Seit August hat er an seinem hessischen Wohnort auf einem ehemaligen Gehöft die Dauerausstellung "Gunter Demnig: Spuren und Wege" eröffnet. Dort zeigt er bislang unbekanntere Werke, "die zur Idee der Gedenksteine geführt haben." Reisen und Steine verlegen werde er aber weiterhin, sagt der Künstler: "Die Arbeit hält mich auch jung."