Gerade noch war es andächtig still, einige Menschen sitzen auf den Kirchenbänken, die Hände gefaltet zum Gebet. Es ist Mittagszeit in der katholischen Liebfrauenkirche in der Innenstadt von Frankfurt am Main. Rechts neben dem Altar ein ungewohntes Geräusch: Eine Tätowier-Nadel surrt auf dem Oberarm einer Frau, ein heller Spot gibt dem Tattookünstler Silas Becks das notwendige Licht.
Der Stuttgarter hat seine Kundin Antje vor der Orgel platziert. Die Hessin hat sich bei ihrem vierten Tattoo für das Wort "Agape" entschieden. "Das bedeutet selbstlose Liebe. Die Liebe gegenüber allen Mitmenschen und auch die Selbstliebe", erklärt die Biologin aus Hainburg.
"Wenn das so wäre, dass wir alle unsere Mitmenschen lieben und auch jeder und jede sich selbst, dann würde es uns allen besser gehen." Antje ist eigentlich keine Kirchgängerin. Als gläubig würde sie sich aber schon bezeichnen. Von der Aktion habe sie über Instagram erfahren - und bei der Verlosung eines kostenlosen Tattoos gewonnen.
"Ich will meinen Glauben immer bei mir haben"
Silas Becks tätowiert schon zum zweiten Mal in der Frankfurter Kirche. Die Idee zum "Tattoo-Walk-In" kam dem Team der Erwachsenenbildung des Bistums Limburg gemeinsam mit dem Citykloster Liebfrauen. Künstler Becks fühlt sich geehrt. Der 40-Jährige ist selbst gläubiger Christ, trägt ein Bibel-Tattoo auf dem Hals.
"Andere tragen einen Rosenkranz. Den kann man ablegen. Ich will meinen Glauben immer bei mir haben und zeigen", sagt der Tätowierer und schiebt sich seinen Shirt-Kragen wieder zurecht. Becks hat sich auf Kalligrafien, also Schriften, spezialisiert. Viele Menschen entschieden sich für spirituelle Motive und Schriftzüge, erklärt er. "Die meisten bedienen sich da auch aus verschiedenen Glaubensrichtungen wie zum Beispiel dem Buddhismus."
Tradition auch im Christentum
Tattoos und Kirche - das passt nicht für alle Menschen zusammen. Immer wieder muss Becks sich gegen Vorurteile wehren, Tattoos seien "Teufelszeug". Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen und dem Theologen Paul-Henri Campbell hat er den katholischen Bildungsverband der Tätowierer gegründet. "Societas indelebilis" möchte einen Beitrag zur Entmystifizierung von Tattoos leisten: "Tattoos haben eine jahrhundertealte Tradition im Christentum", betont Becks.
Im Mittelalter etwa versuchten Franziskaner, die Leiden Christi durch Tätowierungen erfahrbar zu machen. In Pilgerberichten finden sich Erzählungen darüber, dass in Jerusalem und Santiago de Compostela die Wallfahrer tätowiert wurden. Koptische Christen stechen bis heute ein Kreuz auf das rechte Handgelenk.
Beschwerden im Vatikan
All das wüssten viele Menschen nicht. Daher ist es Becks wichtig, miteinander ins Gespräch zu kommen. Aktionen wie der "Tattoo-Walk-In" seien dafür gut geeignet. Der Verband plane weitere ähnliche Aktivitäten, kündigt Becks an.
Nach der ersten Tattoo-Aktion vor einem Jahr habe es sogar zwei schriftliche Beschwerden gegeben, die es bis zum Vatikan geschafft hätten, berichtet Becks. Das Bistum Limburg aber habe sich hinter die Aktion gestellt und sie in diesem Jahr wiederholt.
Zum Tätowieren kam Becks "wie die Jungfrau zum Kinde", wie er erzählt: Ein Bekannter habe damals seine Entwürfe gesehen und den Anstoß gegeben. Seit 20 Jahren tätowiert er in seinem Stuttgarter Studio "Mommy I'm Sorry". Dort sei er nicht nur Dienstleister, sondern auch Seelsorger, sagt er: "Ich höre da teilweise schlimme Geschichten. Das geht nicht spurlos an einem vorbei." Wichtig sei es, ein gutes Gleichgewicht zu finden und nicht alles mit nach Hause zu nehmen.