evangelisch.de: Herr Claussen, ist die Idee vom Bilderverbot im Judentum und frühen Christentum eigentlich noch haltbar?
Johann Hinrich Claussen: Bei meinen Recherchen hat mich überrascht, dass dieses scheinbar so wichtige Gebot in der Bildgeschichte Israels und des frühen Christentums gar nicht so eine große Rolle gespielt hat, wie wir heute denken. Hier hat die Archäologie in den vergangenen Jahrzehnten ganz neue Erkenntnisse gebracht: Auch in Israel gab es Bilder und natürlich auch im frühen Christentum. Man hat vor allem kleine Bildwerke gefunden wie Figurinen, Siegel und Amulette. Sie waren wichtig für die persönliche, familiäre Frömmigkeit. Nicht selten hatten sie eine magische Funktion. Aber in der biblischen Archäologie hat man aufgehört, zwischen Glaube und Aberglaube zu unterscheiden. Es geht um Schutz, Heilung, Trost, Kraft. Das soll durch diese religiöse Kleinkunst dargestellt und bewirkt werden. Da stellt sich natürlich die Frage nach der Bedeutung des Bilderverbots neu. Es ist ein notwendiges Korrektiv. Denn es verhindert, dass ein einzelnes Gottesbild zum alleinseligmachenden erklärt und Gott in einem Bildwerk "eingefangen" wird. Das biblische Bilderverbot ist wie ein Riss, der durch alle menschengemachten Gottesbilder hindurchgeht.
Welche Bilder entwarfen die frühen Christen für ihren Glauben – alles nur geklaut?
Claussen: Die ersten Christen stammten nicht aus den politischen und kulturellen Eliten. Deshalb griffen sie wie selbstverständlich auf die konventionellen Bildmuster zurück, die in ihrer Umgebung vertraut waren. Was hätten sie anderes tun sollen? Aber zugleich versuchten sie, dem Übernommenen einen eigenen Sinn zu geben. Ein gutes Beispiel ist der gute Hirte. Dies war ein in der Antike allgemein beliebtes Motiv und ein Symbol für einen gerechten, fürsorglichen und friedlichen Herrscher. Wenn die römischen Christen ihn an die Decken ihrer Katakomben malen ließen, sahen sie in ihm aber Christus, der das verlorene Schaf sucht und sein Leben für seine Herde gibt. Zugleich erfanden die Christen neue Bildideen. Dabei haben sie viel aus den Evangelien geschöpft und die Geschichten von Weihnachten, Passion und Auferstehung bildnerisch nacherzählt.
Sehr wichtig war aber auch die Offenbarung des Johannes. Denn diese Apokalypse enthält viele starke Sprachbilder, die geradezu danach rufen, gemalt zu werden. Interessant finde ich, dass in der Antike nicht – wie später im Mittelalter – die Angst erregenden Bilder – Jüngster Tag, Gericht, Verdammung, Weltende – herausgegriffen wurden, sondern die Bilder, die von Frieden und Ordnung sprechen. So tritt neben den guten Hirten das Motiv des Lamms, das die Welt regiert – und nicht mehr der römische Kaiser.
"Es hat lange gedauert, bis die Christenheit eine eigene Bildsprache für ihr Gründungstrauma gefunden hat"
Wie lange brauchte es, bis das Kreuz von einem Folterinstrument zu einem Symbol des Christentums wurde?
Claussen: Es hat lange gedauert, bis die Christenheit eine eigene Bildsprache für ihr Gründungstrauma gefunden hat. Genau lässt sich dieser Prozess nicht mehr nachverfolgen. Aber es gibt eindrucksvolle archäologische Funde, die zumindest eine Ahnung geben. Da ist zum Beispiel der sogenannte Roger-Pereire-Stein aus dem späten 2. oder frühen 3. Jahrhundert – eine der ältesten Kreuzigungsdarstellung, die wir kennen.
Es ist ein kleiner Blutjaspis, auf dem ein dünnes, T-förmiges Kreuz zu sehen ist, an dem ein Mann hängt. Sein Kopf ist im Profil dargestellt. Er trägt Bart und langes Haar, ist also erwachsen. Dass er unbekleidet ist, könnte ein Zeichen seiner göttlichen Macht sein. Seine Hände hängen herab, denn er ist angebunden, nicht angenagelt, wie es uns vertraut ist. Neben dem Bild sind griechische Inschriften eingeritzt: Namen wie Jesus Christus, Vater, Sohn, Emanuel sowie heidnische Namen. Der Roger-Pereire-Stein könnte auch von einem heidnischen Magier benutzt worden sein. Denn dem Namen Jesu Christi wurde nicht nur von Christen die Macht zugesprochen, Dämonen zu bannen oder Krankheiten zu heilen. Die ersten ausgeführten Passionsdarstellungen finden wir dann erst im 5. Jahrhundert, zum Beispiel als Ausschmückung einer kleinen Elfenbeinkiste.
Sie legen einen starken Fokus auf das frühe Christentum im Osten, warum?
Claussen: Das Christentum war nie – nicht in seinen Anfängen und auch heute nicht – eine exklusive Angelegenheit des westlichen und nördlichen Abendlandes. Seine ersten Gravitationszentren lagen im Nahen Osten, also in Palästina und in Regionen, die heute Teil von Jordanien, Syrien, der Türkei sind, sowie in Nordafrika, vor allem Ägypten. Diese Weltgegenden waren bis ins 7. Jahrhundert ziemlich friedlich und wohlhabend, dazu religiös und kulturell höchst lebendig. Archäologie und Altertumswissenschaft haben in der letzten Zeit viele großartige Entdeckungen gemacht, von denen ich meinem Theologiestudium in den 1980er Jahren noch gar nichts hören konnte. Unser Blick war damals noch viel zu sehr auf Europa gerichtet. Das beginnt sich zu ändern, zum Glück. Denn die Bilder der syrischen Säulenheiligen, die Buchmalereien aus Äthiopien oder Armenien, die Fresken aus Georgien und Ägypten sind atemberaubend schön und interessant. Es wird gegenwärtig viel über "postkoloniale Perspektiven" gesprochen. In der frühen Bildgeschichte des Christentums zeigt sich, wie bereichernd es sein kann, die alteuropäischen Scheuklappen abzulegen. Gerade im Altertum kann man gerade viel Neues kennenlernen.
"Neuere Forschungen bezweifeln, dass es den sagenhaften Ikonen-Streit in Byzanz überhaupt gegeben hat"
Es ist in der Geschichte ein Ikonen-Streit in Byzanz überliefert. Wofür stehen Ikonen und gab es die Ikonenzerstörung wirklich?
Claussen: In meinem Studium habe ich noch gelernt, dass das oströmische Reich im 8. und 9. Jahrhundert von einem Bilder-Bürgerkrieg erfasst worden sei. Die Verehrer von Ikonen hätten einen erbitterten Freiheitskampf gegen bilderfeindliche Kaiser und Bischöfe, die "Ikonoklasten", führen müssen. Doch neuere Forschungen stellen das in Frage. Sie bezweifeln, dass es den sagenhaften Ikonen-Streit in Byzanz überhaupt gegeben hat. Wahrscheinlicher ist, dass sich die neuartige Ikonenfrömmigkeit Schritt für Schritt durchgesetzt hat. Sie erfüllte die Sehnsucht nach einer dinglichen Gegenwart des Göttlichen. Dabei versuchten die Theologen feine Unterscheidungen durchzusetzen: Ikonen sollten verehrt, aber nicht angebetet werden. Ob sich die Gläubigen daran gehalten haben? Ikonen war doch mehr als Bilder, nämlich selbst Akteure. Sie schlugen die Feinde in die Flucht, vertrieben Dämonen, heilten von Krankheiten. Doch neben diesem magischen Gebrauch waren sie natürlich Zielpunkte der Meditation und des Gebets. Denn in ihnen war die göttliche Gnade anwesend. Man kann von einem fast sakramentalen Charakter dieser Bilder sprechen.
Nach Renaissance und Romantik und blicken Sie auf Beispiele aus der Moderne – was faszinierte Sie ausgerechnet an den millionenfach reproduzierten Herz-Jesu-Bildern?
Claussen: In meinem Buch wollte ich die großen Werke hoher christlicher Kunst feiern und bekannt machen. Ich mag aber auch das Kleine, Niedrige, Billige und manchmal sogar den Kitsch. Ihn sollte man auch im religiösen Feld nicht übersehen. Denn er hat eine große Wirkmacht. Für die Mehrheit der Menschen ist er bedeutungsvoller als so manches ästhetisches Meisterwerk. Manchmal steckt sogar ein geheimer Sinn in ihm. Deshalb hat es mir großen Spaß gemacht, die mit modernen Methoden massenhaft produzierten und vertriebenen Erbauungsbilder des 19. und 20. Jahrhunderts vorzustellen.
Ein Beispiel?
Claussen: Zum Beispiel die Bildchen des katholischen Herz-Jesu-Kultes. Sie sind auch deshalb so interessant, weil sich in ihnen ein Grundzug des modernen Christusbildes zeigt: die Verweiblichung Christi. Erst im 18. Jahrhundert hatte man ja verstanden, dass es biologisch-anatomisch zwei Geschlechter gibt. Im 19. Jahrhundert hatte man dann versucht festzuschreiben, was "wesentlich" männlich oder weiblich ist. Für das Christusbild war das ein Problem: Wie männlich muss oder wie weiblich darf der liebevolle, barmherzige, heilende und helfende, duldsam leidende Christus sein?
In der Moderne präsentieren Sie neben Alexej von Jawlensky und Marc Chagall auch einen Quilt von der afroamerikanischen Künstlerin Harriet Powers (1837–1910) – warum?
Claussen: Ich hatte im schulischen Kunstunterricht gelernt, dass man sich die Entwicklung der modernen Kunst als eine Fortschrittsgeschichte vorzustellen habe, in der eine avantgardistische Bewegung die vorherige ablöse (Impressionisten – Expressionisten – Kubisten usw.) Doch diese triumphale Erzählung funktioniert schon seit längerem nicht mehr. Die Geschichte der Kunst im späten 19. und dann im 20. Jahrhundert ist viel chaotischer und anarchistischer. Das zeigt sich nicht zuletzt dort, wo Christlichkeit eine Rolle spielt – zum Beispiel in der Volkskunst. Diese war für die Moderne ebenso unverzichtbar wie die avantgardistischen Helden. Man nehme nur die großen Quilts von Harriet Powers, einer ehemaligen Sklavin. In ihrem Erfindungsreichtum, ihrer Abstraktion nehmen sie die späteren Scherenschnitte von Henri Matisse vorweg. Lange war sie vergessen, doch inzwischen ist sie zu einer Leitfiguren junger afroamerikanischer Künstlerinnen geworden.
Welches Fazit ziehen Sie aus ihrer Beschäftigung mit 2000 Jahren christlicher Kunst? Muss christliche Kunst heute provozieren?
Claussen: Ich möchte kein Fazit ziehen, denn damit würde ich ja behaupten, dass man heute schon ein Urteil über die Geschichte der christlichen Kunst sprechen konnte, weil diese an ihr Ende gekommen wäre. Das glaube ich nicht. Offensichtlich kommt das Christliche in den meisten prominenten und hoch gehandelten Werken des gegenwärtigen Kunstmarktes kaum vor. Doch das bedeutet nicht, dass nicht der eine oder die andere Künstlerin sich nicht von Grundelementen des Christlichen inspirieren lassen könnte.
Gerade diejenigen, die der Mode und dem Markt skeptisch gegenüber stehen, zeigen manchmal einen feinen Sinn für die Schönheit und Dringlichkeit des Glaubens. So entstehen manchmal eindrückliche, aber leise Kunstwerke. Sie suchen nicht den einfachen Skandal oder die schnelle Provokation – das ist ja billig –, sondern inszenieren Konzentration und Vertiefung. Man muss ein bisschen suchen und dabei eigene Wege einschlagen, kann dann aber wunderbare Entdeckungen machen. So habe ich bei der Arbeit an diesem Buch die britisch-portugiesische Malerin Paula Rego entdeckt, die vor wenigen Jahren ungeheuerliche Marienbilder geschaffen hat.
Johann Hinrich Claussen: Gottes Bilder – eine Geschichte der christlichen Kunst, C.H.Beck Verlag, 318 Seiten, 32 Euro.