Als der Gospelchor Hannover in seiner Kirche die ersten Verse des Lieds "Lean on me" singt, begleitet Chorleiter Jan Meyer die Sängerinnen und Sänger noch am Klavier. Das Lied beginnt ruhig und nimmt mit dem Refrain Fahrt auf. "Somebody!", ruft Meyer deutlich, dann "Lean on me!", später weitere Stichworte. Der Chor singt die zugehörigen Phrasen. Nach einiger Zeit löst Meyer sich von Tasten und Pedal seines Pianos, tritt vor den Chor, dirigiert mit beiden Händen und wippt mit dem rechten Fuß zum Takt der Musik. Die 15 Sängerinnen und Sänger bewegen sich auf der Stelle zur Musik, sie intonieren das Lied kraftvoll und klar.
Es klingt in diesem Moment nicht, als übe der Chor gerade erst für einen Auftritt - und doch steht ihm bald ein besonders großer in der Stadt bevor: Beim 10. Internationalen Gospelkirchentag ist er am Freitag neben einem Projektchor der einzige Laienchor bei der zentralen Eröffnungsfeier auf dem Opernplatz. "Für uns alle eine große Ehre", sagt Meyer. Rund 3.000 Sängerinnen und Sänger aus aller Welt nehmen mit ihren Chören an Europas größtem Gospelfestival teil. Sie treten verteilt in der Innenstadt und in Kirchen auf - und singen alle zusammen im sogenannten Mass Choir in der Swiss Life Hall. In Workshops können sie sich fortbilden.
"Gospel ist wie Atmen"
Sänger Tobias Seiler hat daran mitgearbeitet, dass die frühere Erlöserkirche in Hannover im Jahr 2002 zur heutigen Gospelkirche wurde. Seitdem zieht sich die Gospelmusik durch alle Projekte der Gemeinde, von den verschiedenen Chören der Gemeinde über Workshops und Bildungsangebote bis in den Gottesdienst. Von der Musik könne eine unglaubliche Kraft ausgehen, sagt Seiler: "Gospel ist ein bisschen wie Atmen."
Alina Sehnert nimmt erst zum dritten Mal an einer Probe des Gospelchors teil - hat aber schon in vier Konzerten mitgesungen. Wie alle Mitglieder dieses Chors musste sie zuerst bei Meyer vorsingen. Sie habe in kurzer Zeit eine "Mega-Entwicklung" hingelegt, sagt sie. Inzwischen sei sie vor Auftritten nicht mehr aufgeregt: "Da stehe ich halt einfach auf der Bühne." Der Chor tritt bis zu 20-mal im Jahr auf, er probt nur alle zwei Wochen.
Damit die Sängerinnen und Sänger auch zu Hause üben, nimmt Jan Meyer die einzelnen Gesangsstimmen auf, außerdem schneiden einige Chormitglieder sie in den Proben auf ihren Tablets mit. Entsprechend schnell probt Meyer mit dem Chor die Stücke. Manchmal verbessert er die Aussprache einzelner Wörter, oft die Balance in den Stimmen: "Hier dürft ihr schmieren, was das Zeug hält", "ein bisschen feiernder und weniger militärisch", "richtig schön poppig bitte". Bei einem Lied ist zu hören, dass nicht alle Sängerinnen und Sänger geübt haben. "Bitte kommuniziert das dann wenigstens vorher", fordert Meyer.
Er ist nicht nur Kantor der Gospelkirchengemeinde, sondern auch Gospelreferent der evangelischen Landeskirche, parallel promoviert er zu Gospelchören und religiöser Bildung. Gospel habe ihn erst nach seinem Kirchenmusikstudium in den Bann gezogen: "'Dann habe ich vom einen auf den anderen Tag nur noch Gospel statt Bach gehört", sagt Meyer, der auch den Gospelkirchentag mitorganisiert.
Viele Chöre proben erst jetzt wieder richtig
Während der Corona-Kontaktbeschränkungen haben sich seine Chöre über Zoom zu Proben, Spielen und Gesprächen getroffen. Das sei vielerorts leider nicht so gewesen: "Viele Chöre kommen jetzt erst wieder so langsam in Gang." Vor allem deshalb sei die Zahl der Teilnehmenden am Gospelkirchentag von früher rund 5.000 auf jetzt knapp 3.000 zurückgegangen - das Programm sei dennoch so bunt und umfangreich wie immer. Meyer ist zuversichtlich, dass der nächste Gospelkirchentag mit Aufbauarbeit in den Chören, einzelnen Projekten und digitalen Probenmöglichkeiten wieder größer wird: "Wir müssen jetzt für das schönste Hobby der Welt werben."