Gemälde "Der Engel tröstet Hagar in der Wüste" von Francesco Manti
© DeAgostini/Getty Images
Francesco Manti malte im 17. Jahrhundert "Der Engel tröstet Hagar in der Wüste" mit Ölfarbe auf Leinwand.
Auslegung der Jahreslosung 2023
Hagar und der sehende Gott
"Du bist ein Gott, der mich sieht." Die Jahreslosung für das Jahr 2023 stammt aus dem Buch Genesis ganz am Anfang der Bibel (Kapitel 16, Vers 13). Es ist eine Sklavin, die diese Worte spricht: Hagar, Zweitfrau von Abram und Mutter Ismaels. Ihr Bekenntnis kann ein Zuspruch sein für alle, die wahrgenommen und wertgeschätzt werden möchten.

"Ich finde die Jahreslosung faszinierend", schwärmt Wolfgang Baur, Vorsitzender der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen. "Zu wissen: Wir sind nicht alleine, sondern da gibt es noch einen, der uns sieht – das ist schon ermutigend. Wenn ich Gottesdienst feiere, wenn ich bete: Ich wende mich nicht an eine Mauer, sondern ich wende mich an einen Gott, von dem ich davon ausgehe: Du siehst mich." In der ÖAB war man sich sehr schnell einig, den Vers "Du bist ein Gott, der mich sieht" als Jahreslosung für das Jahr 2023 auszuwählen. Die Auswahl funktioniert so: Bei der jährlichen Hauptversammlung der ÖAB schlagen die Mitglieder mehrere Bibelworte vor, über die sie nach ausführlicher Beratung abstimmen. 

Der gekürzte Bibelvers, der als Leitwort über dem Jahr 2023 stehen soll, stammt aus einer dramatischen Geschichte im Kontext der Erzeltern-Erzählungen: Trotz der Verheißung vieler Nachkommen wird Abrams Frau Sarai nicht schwanger. Sarai versucht nachzuhelfen und bittet Abram, mit ihrer Magd Hagar ein Kind zu zeugen. Das war damals nicht so ungewöhnlich, wie es uns heute erscheint: "Die Zweitehe zum Erhalt der Familie ist rechtlich ein übliches Verfahren", erläutert der Theologieprofessor Thomas Naumann in seinem Artikel zu Hagar.

Nachdem Hagar schwanger geworden ist, kommt es zum Konflikt zwischen den beiden Frauen, die sich gegenseitig verachten und demütigen. Schließlich wird es Hagar zu viel und sie flieht. In völlig auswegloser Lage, schwanger, allein, heimatlos und ohne Perspektive, kommt für Hagar Rettung aus dem Nichts: "Aber der Engel des HERRN fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste" (Genesis 16,7) und spricht zu ihr: "Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand", und weiter: "Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. (...) Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der HERR hat dein Elend erhört." (Genesis 16,10-11) In dem Namen für Hagars noch ungeborenes Kind steckt das Verb "hören", "Ismael" bedeutet "Gott hat erhört".  

Noch wichtiger als das Gehört-Werden ist für Hagar offenbar das Gesehen-Werden. "Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn sie sprach: Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat." (Genesis 16,13) Der Vers spielt mit dem hebräischen Wort für "Sehen", aus dem Hagar einen neuen Namen für Gott konstruiert, wörtlich etwa: "Du bist Gott, der Mich-Sehende". Manche Bibelübersetzungen versuchen das Wortspiel erklärend wiederzugeben: "Du bist El-Roï - Gott schaut auf mich -." (Einheitsübersetzung) oder: "Hagar gab dem Herrn, der mit ihr geredet hatte, den Namen El-Roï, das heißt: Gott sieht nach mir." (Basisbibel). 

"Er ist nicht bloß ein Gott, der einmal geguckt hat, sondern er ist ein Gott des Sehens, des Mich-Sehens", analysiert der ÖAB-Vorsitzende Wolfgang Baur. "Hier wird eigentlich ein punktueller Vorgang zu einem Charaktermerkmal Gottes, könnte man fast sagen. Es ist ein Gott, der sein Augenmerk grundsätzlich auf mich richtet." Dabei geht es nicht um eine prüfende Beobachtung im Sinne von Big Brother, sondern um ein Gesehen-Werden im seelsorglichen Sinn. "Sehen heißt hier: ‚Ich nehme wahr, dass es dich gibt mit allem, was dich ausmacht. Du bist eben kein Nichts, keine Luft.‘ Das erfährt Hagar dort: dass sie als Frau in einer ganz bedrohten Existenz gesehen wird." 

"Du hast eine Zukunft!"

Hagars Antwort an den Engel, in dem sie Gott selbst erkennt, ist ein Glaubensbekenntnis. "Du bist El-Roï, der Gott des Mich-Sehens." Der Satz beginnt im Hebräischen mit "Du" und endet mit "mich". Du, Gott, und ich, Hagar: In dem kurzen, aber intensiven Gespräch an der Wasserquelle ist für Hagar eine Gottesbeziehung entstanden, in der sie sich getragen und ermutigt fühlt. Doch inwieweit hat Gott ihr eigentlich geholfen, wenn sie doch nach der Begegnung mit Gott in die schwierige Dreiecksbeziehung mit Abram und Sarai zurückkehren soll? "Zunächst mal konkret hilft ihr die Aufforderung ‚Gib dich nicht dem Tod preis, du hast eine Zukunft!‘", analysiert Wolfgang Baur. Der Zuspruch von Gott stärkt Hagar für ihren weiteren Lebensweg, sie geht jetzt aufgerichtet und mit Würde ihren Weg und weiß, dass Gott sie begleitet. 

Hagar ist "die erste Frau der Bibel, die einer rettenden Gottesbegegnung gewürdigt wird und die einzige Frau, die von Gott selbst ‚Väterverheißungen‘ erfährt", erläutert der Theologe Thomas Naumann. Die Verheißung vieler Nachkommen an Hagar klingt ähnlich wie die an Abram, den Vater von Ismael und später Isaak (Genesis 12,1-3; 15,5; 22,16-18). So steht die Sklavin Hagar in Gottes Augen auf einer Ebene mit dem großen Stammvater, der später den Namen Abraham ("Vater vieler Völker") bekommt (Genesis 17,4-5).

Blickwende zur Versöhnung der Religionen

"Das finde ich ganz spannend, auch interreligiös", sagt Wolfgang Baur, "denn ich meine: Die Ismaeliten sind dann später die Muslime, die ja ihre Existenz auf Ismael zurückführen so wie die Juden auf Isaak. Die zwei Religionen finden ihre Stammväter genau in diesen Parallelgeschichten. Das ist eine Blickwende, die eigentlich auch Versöhnung schaffen könnte zwischen Religionen." Im Islam erfährt Hagar eine Würdigung bei der Wallfahrt nach Mekka: Pilgerinnen und Pilger besuchen die Quelle Zamzam, die der Überlieferung nach Hagars Quelle war. Diese Tradition bezieht sich auf eine zweite ähnliche Erzählung, in der Hagar – jetzt mit ihrem Sohn Ismael – vertrieben und durch Gott gerettet wird (Genesis 21,8-21). 

Hagars Name bedeutet "die Fremde". "Die Fremdheit ist ein Grundbaustein in Israels Existenz", erläutert Wolfgang Baur. "Es ist ja ein Phänomen in den Erzelterngeschichten, dass die Ur-Eltern Israels immer als Fremde in ein Land kommen. Sie kommen ins Land Kanaan als Fremde, nach Ägypten als Fremde, sie sind überall als Fremde – und dort dürfen sie sich entfalten." An der Geschichte von Hagar an der Quelle wird "das Elend von Flucht und Vertreibung und die anschließende göttliche Errettung in der Wüste (Exodusthematik) ungemein einprägsam und in der Bibel einzigartig an einem Einzelschicksal gezeigt", schreibt dazu Thomas Naumann. Von dem Motiv der Rettung, das sich durch die ganze Bibel zieht, war in der Jahreslosung für das Jahr 2022 die Rede.

In der Figur der Hagar können sich viele Menschen wiederfinden: Geflüchtete, die sich fremd und unbeachtet fühlen; Frauen, die sich übersehen und gedemütigt fühlen; Menschen, die keine Hoffnung auf eine Zukunft haben. "Ich wünsche mir, dass die Gemeinden darüber nachdenken, welche Menschen wie gesehen werden und welche Menschen vielleicht mal mehr ins Blickfeld gerückt werden müssen", sagt Wolfgang Baur. Überrascht hat ihn, dass gerade Jugendliche die Jahreslosung positiv aufnehmen: "Wir haben Jugenddelegierte in der ÖAB, die aus ihrer Perspektive die Auswahl der etwas älteren und theologisch gebildeten Männer und Frauen kommentieren", erzählt der ÖAB-Vorsitzende. "Und die haben gesagt: Es gibt ganz viele Jugendliche, gerade in sozialen Netzwerken, die danach lechzen, gesehen zu werden. Auch für die junge Generation ist so eine Losung im Grunde genommen ein ganz wichtiges Wort: Da gibt es jemanden, der uns sieht, der mich sieht."