Herr Baur, manchmal gibt es ja intensive Diskussionen bei der Auswahl einer Jahreslosung. Wie war es diesmal?
Wolfgang Baur: Wir haben uns relativ schnell geeinigt auf dieses neutestamentliche Wort "Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen" (Johannes 6,37). Dann gab es aber Diskussionen in zwei Richtungen: Zum einen wurde gesagt, das Wort könnte missverstanden werden nach dem Motto: Nur wer sich taufen lässt, wird gerettet. Das wäre exklusiv, so ein bisschen in Anlehnung an: "Nur durch mich kommt ihr zum Vater" (Joh 14,6). Der andere Einwand war: Der Vers könnte auch politisch verzweckt werden in Richtung Flüchtlinge: "Alle, die nach Deutschland kommen, sollen nicht abgewiesen werden." Diese zwei Extremperspektiven wurden diskutiert. Aber wir haben dann relativ zügig entdeckt, dass Johannes doch etwas anderes meint, weil er eigentlich eine viel weitere Dimension hat.
Der Vers steht ja im Kontext einer Rede Jesu vom Brot des Lebens...
Baur: Da wird eine ganz große Linie sichtbar. In der Brotrede wird ja erstmal beschrieben, dass Gott der Welt das Leben gibt und möchte, dass das Leben gerettet wird. Der Gedanke der Rettung ist ganz zentral, das sieht man in Vers 39: "Das aber ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich keinen von denen, die er mir gegeben hat, zugrunde gehen lasse." Die Frage ist: Wer sind denn die Menschen, die Jesus gegeben worden sind nach Auskunft des Johannes? Wir haben einen Blick zurück geworfen ins Alte Testament, da heißt es schon ganz am Anfang in der Josefsgeschichte: Gott hatte die Absicht, "viel Volk am Leben zu erhalten" (1. Mose 50,20). Das Johannesevangelium greift diese Linie auf. Gegen Ende heißt es: "Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben" (Joh 10,10). Das passt wirklich sehr gut zur Gesamtlinie auch der hebräischen Bibel: Es werden alle Menschen bis ans Ende der Welt gerufen, die Botschaft Gottes aufzunehmen. Abrahams Auftrag "Du sollst ein Segen sein" (1. Mose 12,2) eröffnet das eigentlich, und dann geht es bei den Propheten weiter: "Auf mich hoffen die Inseln, sie warten auf meinen Arm" (Jes 51,5). Man könnte das so zusammenfassen: Wer immer der rettenden Macht Gottes vertraut, der wird nicht abgewiesen. Das ist die Zusammenfassung, die diese Brotrede mit den Rettungstexten in der hebräischen Bibel verbindet.
"Ein Ausdruck der Gewissheit, dass die Welt noch zu retten ist"
Das klingt ja dann überhaupt nicht mehr exklusiv...
Baur: Genau, dann ist es eben nicht mehr exklusiv. Mir kam ein Bild in den Sinn: Man hört jetzt immer von Sea-Watch und anderen Rettungsorganisationen. Wir Christ:innen erkennen in Jesus Christus die offenen Arme Gottes, und genau deshalb sollten wir unsere Arme öffnen für alle, die Hilfe brauchen, die Hunger haben. Wir gehören zu einem Programm, das man Life-Watch nennen könnte, Gottes großes Rettungsprogramm. Und wenn man sich jetzt diese Boote vorstellt, Sea-Watch und Life-Watch: So ein Boot würde nicht versuchen, ein anderes Boot zum Kentern zu bringen, ganz egal, was es für eine Flagge hat – mit Flagge meine ich jetzt Konfession, Religion oder auch Atheisten. Sondern sie würden versuchen, aus ihrer Möglichkeit heraus, so klein sie auch sei, Hilfe anzubieten. Dann wäre die Jahreslosung für mich ein Ausdruck der Gewissheit, dass die Welt noch zu retten ist – entgegen aller Schwarzseherei – und dass wir mitten im Rettungsboot sitzen dürfen.
Lesen Sie die Jahreslosung also auch als Appell an Christ:innen, bei dieser Rettung mitzuhelfen?
Baur: Richtig, genau! Nicht nur zugucken, wie Christus die Leute annimmt! Sondern wir sitzen im Rettungsboot, das heißt: Wir können selbst Hand anlegen. Wir sind eigeladen, die erfahrene Rettung, die uns angeboten wurde und wird, weiterzugeben und mit zu helfen, mit zu retten.
"Menschen haben oft das Gefühl: Ich bin da verloren, wie ein Schwimmer auf weiter See."
Kommen wir nochmal zurück zum Wortlaut der Jahreslosung. Am Ende steht im Griechischen das Verb "ekballo" – "hinaustreiben, hinauswerfen", Luther übersetzt mit "hinausstoßen". Was wäre denn in diesem Bild "drinnen" und "draußen"?
Baur: Wir haben in den Evangelien ja manchmal die Formulierung, dass draußen "Heulen und Zähneknirschen" sein wird. Deswegen glaube ich, "draußen" zu sein wäre dieses Gefühl, wirklich existenziell exkommuniziert zu sein, verloren in einem Nichts, wo der einzelne Mensch keine Bedeutung mehr hat. Andersherum würde ich sagen: Wer dieses Beispiel von Jesus anschaut, der wird nicht die Angst haben müssen: "Ich gehe verloren." Das ist für mich eine ganz tröstliche Perspektive, gerade heute, in einer Zeit, die so diffus ist. Menschen kennen sich nicht mehr aus und haben Angst vor Mächten, die sie umgeben und umgarnen und beeinflussen. Sie haben oft das Gefühl: "Ich bin da verloren", so wie ein Schwimmer auf weiter See, wo man kein Ufer mehr sieht.
Die Einheitsübersetzung gibt "ekballo" mit "abweisen" wieder. Gerade Jesus ist ja derjenige, der es kennt, von Menschen abgewiesen zu werden...
Baur: Ja, natürlich, das beginnt in Johannes 1: "Er kam in sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht auf" (Joh 1,11). Das ist genau diese Erfahrung. Stellen wir uns mal vor, Gott schafft eine Welt, kommt selbst in diese Welt und die sagen ihm: "Was sollen wir mit dir?" Das ist ja das Paradox schlechthin! Gott zu erkennen und sich annehmen zu lassen ist eigentlich ein Einstimmen in das ganze große Schöpfungswerk Gottes, das dann in die Erhaltung und die Vollendung weitergeht. Damit nimmt es die Angst, herauszufallen.
Passt die Jahreslosung Ihrer Meinung nach besonders gut ins Jahr 2022?
Baur: Es gibt im Augenblick so viele Beispiele, wo es passt, da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Was 2022 sein wird, weiß ich nicht, aber nach wie vor werden wir sehr viele fragende, suchende, verängstigte Menschen haben, die Orientierung suchen, die sich verloren fühlen. Diese Menschen werden dankbar sein für jede Hand, die ihnen ausgestreckt wird und die sie nehmen können, um sicher zu werden. Das sind nicht nur Flüchtlinge, die vermutlich noch in größerer Zahl kommen werden, das sind auch Menschen bei uns, die durch Corona und die Folgen belastet sind: Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben und in die Armut gefallen sind. Menschen, die Angst haben, ihre Familie nicht ernähren zu können. Menschen, die nicht mehr sicher sind, ob ihre Kinder in der Schule überhaupt noch erzogen und gebildet werden, weil es zu wenige Lehrkräfte gibt.... Da sind so viele Ängste und Unsicherheiten, dass die Jahreslosung ein riesengroßer Trost ist, glaube ich. Das wird sicher 2022 nicht weniger aktuell sein als heute.