Wer sich ein reales Bild von der Stimmung in Kliniken und Heimen machen will, sollte das Internet nutzen. Unter den Hashtags #Medizinbrennt, #Pflegebrennt und #Pflegenotstand ist die alte Debatte über die Krise am Krankenbett neu entfacht.
Wochenlang streikten die Beschäftigten in den sechs Universitätskliniken Nordrhein-Westfalens, um bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Der Intensivpfleger und Aktivist Ricardo Lange schreibt auf Twitter: "Der Personalmangel gefährdet nicht nur in NRW die Gesundheit und das Leben der Patienten, sondern jede Klinik und Pflegeeinrichtung ist davon betroffen." Aber, auch das sorgt für viel Frust: Grundlegende politische Reformen sind nicht in Sicht.
Die ehemalige Pflegerin Lea R. gab vor vier Jahren ihren Beruf auf. Leicht sei ihr das nicht gefallen, sagt sie im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Dieser Job war meine absolute Leidenschaft. Es gibt nichts Schöneres, als einen Menschen beim Genesungsprozess zu begleiten. Zu sehen, wie er zum ersten Mal wieder eigenständig atmet oder sich im Krankenbett aufsetzt." Doch nach neun Jahren in der Pflege sah die 33-Jährige keine andere Möglichkeit, als aufzuhören. Die Arbeitsbelastung sei einfach zu hoch geworden.
"Man arbeitet immer länger als geplant, springt ein bei Ausfall, will die Patienten so gut versorgen, wie es nur geht," sagt Lea R. "Ich kann in einer Schicht drei Patienten durchbringen, aber ich kann sie nicht umfassend betreuen." Sie fordert eine Eins-zu-eins-Betreuung auf Intensivstationen. Das bedeutet: Auf eine Pflegekraft kommt ein Patient.
Die hohe Arbeitsbelastung findet sich in erschreckenden Zahlen wieder: Mehr als 92 Millionen Überstunden haben sich in deutschen Kliniken bereits in diesem Jahr angesammelt. Allein auf den Intensivstationen der Krankenhäuser fehlen rund 50.000 Pflegekräfte, wie eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie zeigt. Die Versorgungslücke wächst weiter. Prognosen des Instituts der deutschen Wirtschaft zufolge könnten in Deutschland im Jahr 2035 bis zu 500.000 Pflegekräfte fehlen.
Profitorientierung bringt Personal an Grenzen
Als Wurzel des Problems sieht Lea R. die Profitorientierung des Gesundheitssystems. Sie führe dazu, dass möglichst viele Patienten möglichst kostensparend versorgt werden. Sie warnt vor den Folgen, wenn viele Fachkräfte dem Job den Rücken kehren: "Wenn die Pflege wegfällt, bricht alles zusammen."
Der Bremer Patientenschützer Reinhard Leopold hat die Kommerzialisierung in der Pflege scharf kritisiert. Pflegebedürftigkeit dürfe grundsätzlich kein Renditeobjekt sein, die pflegerische Versorgung in Deutschland sei aber wettbewerbsorientiert organisiert, erklärte der Regionalbeauftragte der Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen und warnte: "Das marktwirtschaftliche Prinzip bedingt, mit wenig Input möglichst viel Output zu generieren."
Mehr Pflegebedürftige als Pflegeplätze
Im großen Stil betrieben sei das für die Pflegequalität fatal, denn das größte Sparpotential liege bei den Personalkosten, führte Leopold aus. Zusammen mit dem Fachkräftemangel führe das zu Einbußen in der Qualität. "Erschwerend hinzu kommt, dass eine verwaltungsrechtlich organisierte Aufsichtsbehörde mit wenigen Mitarbeitern dabei multinationalen Konzernen gegenübersteht und fast kein Verbraucherschutz vorhanden ist."
Die Antworten des Senats auf eine große Anfrage in der Bremischen Bürgerschaft von SPD, Grünen und Linken vom Juni bestätigten die seit langem festgestellten Versorgungsprobleme in der Pflege. Zudem berichten Leopold zufolge Angehörige pflegebedürftiger Menschen immer häufiger davon, dass ihre Fragen, Anregungen und Beschwerden mit Ignoranz und manches Mal mit Mobbing beantwortet werden. Bei der Versorgung im häuslichen Bereich mit ambulanten Pflegediensten sei zunehmend eine Kündigung durch den Anbieter zu befürchten. Das zwinge Betroffene oft zu fragwürdigen und rechtlich problematischen Zugeständnissen und Vereinbarungen: "Insbesondere, weil es momentan mehr Pflegebedürftige als Pflegeplätze gibt. Das wettbewerbsregulierende Angebot fehlt."
30 Prozent brechen Pflegeausbildung ab
Laut Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats, werden die Bedingungen eher schlechter. "Die Forderungen sind schon lange bekannt: bessere Arbeitsbedingungen durch angemessene Personalschlüssel und gute Gehälter, Mitspracherechte im Gesundheitssystem", sagte sie dem epd. Problematisch seien auch die vielen Abbrecher in der Pflegeausbildung. Die Quote liege bei 30 Prozent.
Grundsätzlich werden laut Vogler verschiedene Zugänge zu den Pflegeberufen gebraucht, die den Schulabgängern von Hauptschule bis Abitur entsprechende Ausbildungs- und Studiengänge anbieten, die bundesweit gültig sind und Laufbahnkarrieren ermöglichten. So werden Über- und Unterforderungen vermieden und viele verschiedene Zielgruppen angesprochen.
Lea R. wünscht sich eine Akademisierung der Pflege nach amerikanischem Vorbild. Und sie fordert die Aufweichung starrer Dienstpläne und eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden bei voller Bezahlung. Nur so könne dem Pflegenotstand in Deutschland mit Erfolg der Kampf angesagt werden.