Die Tische sind gedeckt. Frauen sitzen dort oder auf Kirchenbänken bei Kaffee in Gespräche vertieft. Ihre Kinder spielen, basteln oder malen. Auch Ajgul Bass ist ins "Café Mir" in der Immanuelkirche im Kasseler Stadtteil Forstfeld gekommen. Die 39-jährige IT-Managerin ist mit ihrer Tochter vor dem Krieg aus Slavutich, an der ukrainischen Nordgrenze gut vierzig Kilometer von Tschernobyl entfernt, nach Deutschland geflüchtet. Hier lebt sie jetzt in einer Notunterkunft.
Ajgul Bass erzählt von dem andauernden Luftalarm zu Hause und den langen Schlangen vor Geschäften, um Milch, Kartoffeln oder Brot zu bekommen. Ihre Eltern, Landwirte, seien dortgeblieben: "Sie wollen ihren Hof nicht zurücklassen." Sie seien ständig in Kontakt, aber: "Ich bin müde geworden, Angst um sie zu haben." Zurückkehren möchte sie nicht: "Hier habe ich eine Perspektive für meine Tochter."
Die Sorge um die Daheimgeblieben sei bei allen groß, viele glauben nicht an eine Rückkehr: "Sie ringen mit sich, ob sie hier neu anfangen und ihre Angehörigen nachholen sollen", sagt Pfarrer Jochen Löber, der in Russland gearbeitet hat. Seine Frau Natalia Dumova, die sich um viele Anliegen selbst kümmert, stammt von dort. Ein großer Vorteil, denn die wenigsten sprächen Deutsch.
Das "Café Mir", hat seit Anfang März geöffnet, immer donnerstags und sonntags, wenn auch zweisprachig Gottesdienst gefeiert wird. "Mir, das heißt Frieden", übersetzt Marat Polovynchyk, der vor 29 Jahren mit seiner Familie aus Kiew nach Kassel gekommen ist. Als der russische Angriffskrieg dort begann, trat er mit seiner Frau an Pfarrer Löber heran: "Wir sollten etwas tun." Der Kriegsbeginn sei ein Schock für ihn gewesen, sagt der 68-Jährige.
Und so entstand in der Immanuelkirche mithilfe Ehrenamtlicher wie Marat Polovynchyk ein Ort des Austauschs und der Begegnung, mit Kinderbetreuung, Sprachkurs und Nachhilfeangeboten. "Wir bieten auch Hilfe an beim Ausfüllen von Formularen für Behörden, bei Übersetzungen, bei Arztbesuchen oder Einkäufen", berichtet der Ukrainer, dem wichtig ist, dass sich seine Landsleute nicht verloren fühlen.
Bis zu siebzig Menschen kämen jedes Mal, ergänzt Löber: "Sie erleben hier Gemeinschaft und können ihre Sorgen teilen. Wir versuchen, den Menschen Heimatgefühl zu geben." Er erzählt, dass nicht wenige traumatisiert seien, und er ist deshalb froh über die Unterstützung durch das Diakonische Werk Region Kassel und dessen psychologische Beratungsstelle.
Psychologin Andrea Schörling beschreibt die Situation der Frauen und Kinder, deren Männer, Väter oder Großväter daheim und weiterhin in den Krieg verwickelt blieben: "Es ist nicht greifbar, wann das ein Ende hat. Sie spüren eine permanente unterschwellige Bedrohung." Mit Blick auf die Kinder sagt sie, dass manche nicht in die Schule gingen, um ihre Mütter zu beschützen.
Um Flüchtlinge zu begleiten, hat das Diakonische Werk seine Angebote ausgeweitet. Geschäftsführerin Tamara Morgenroth, betont, dass dies dank der schnellen Soforthilfe der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) von insgesamt 500.000 Euro für die sieben regionalen Diakonischen Werke in der Landeskirche möglich sei. Das Geld fließe in die Beratungsangebote, Treffpunktarbeit, Sprachkurse und professionelle Ehrenamtskoordination.
Die EKKW hat zudem in mehreren Städten und Gemeinden leerstehende kirchliche Immobilien und Wohnungen als Unterkünfte zur Verfügung gestellt. Dazu zählen die ehemalige Kirchliche Aus- und Fortbildungsstätte in Kassel, das ehemalige Freizeitheim Elbenberg im Landkreis Kassel und das ehemalige Jugendheim in Bieber im Main-Kinzig-Kreis.
Dort lebten derzeit 25 Frauen und Kinder, sagt dessen Leiterin Antonia Seidler. Wie auch rund um die Immanuelkirche in Kassel ist die Bereitschaft in der Kirchengemeinde Bieber groß, zu helfen und zu spenden. Neben dem Nötigen für den Alltag seien Badesachen und Fahrräder gespendet worden, ein Holzhandel habe für ein Hochbeet Holz gegeben, ein Gartenbetrieb stelle Erde und Pflanzen bereit.
Auch die evangelische Kirchengemeinde im osthessischen Heringen kümmert sich um Flüchtlinge. Pfarrer Thorsten Waap sieht auch seine Aufgabe darin, Gemeinschaft zu stiften. Etwa fünfzig Menschen hätten bei privaten Gastgebern eine Unterkunft gefunden, schätzt er. Ihre Betreuung ist für ihn Herzenssache: "Wir wollen wissen, was sie brauchen, wie wir sie unterstützen können, und wir wollen niemanden mit Fragen alleine lassen."