Buchcover von  
Gerhard Schreiber
© De Gruyter Verlag
Themen wie Missbrauch oder Pornografie beleuchtet Autor Gerhard Schreiber aus sexualethischer Sicht.
Buchempfehlung
Sexualethik - aus theologischer Sicht
Auch heiße Eisen wie Konversionstherapie und Pornokonsum greift das Buch "Im Dunkel der Sexualität" von Gerhard Schreiber auf. Ein Kompendium der Sexualethik, meint unsere Rezensentin Dorothea Zwölfer.

Sucht man bei Google nach dem Schlagwort "evidenzbasierte Ethik", findet man als Treffer vor allem Artikel zur Medizinethik und der Frage, wie evidenzbasierte Medizin und Ethik zusammengehören oder unterschieden werden sollten.

Was man aber nicht findet, sind Bücher von Ethikern, die einen theologischen Hintergrund haben und zu ethischen Fragen der Sexualität Stellung nehmen – und zwar eben explizit mit Verweis auf die Evidenzen von Studien, die es im Bereich der Sozial- und Humanwissenschaften zu solchen Fragen ja durchaus schon länger gibt.

Gerhard Schreiber ist in diesem Sinn als ein Pionier der evidenzbasierten theologischen Sexualethik zu bezeichnen, wenn er in seinem Buch "Im Dunkel der Sexualität - Sexualität und Gewalt aus sexualethischer Perspektive" (Verlag de Gruyter, Berlin/Boston 2022, 848 S.) immer wieder die wissenschaftliche Evidenz ethischer Positionen einfordert.

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So kritisiert Schreiber zum Beispiel den evangelikalen Ethiker Thomas Schirrmacher, der sich unter anderem für Konversions- oder Reparativtherapien bei homosexuellen Menschen aussprach, für deren "Unwirksamkeit und Schädlichkeit " (S.173f.) es Schreiber zufolge aber "schlicht erdrückende wissenschaftliche Evidenz gibt" (S.174 und Belege in Fußnote 404).

Mit Studien begründet

Die Studienlage und die Frage nach der Qualität von Studien ist ebenso Thema, wenn Schreiber der Frage nachgeht, wie weit Frauen in der Prostitution Gewalt erleben, als auch bei der Frage, inwieweit sich Pornografiekonsum auf das Leben Jugendlicher und Erwachsener auswirkt. So beobachtet Schreiber etwa im Blick auf den Pornografiekonsum von Frauen: "Freilich sind derartige Befragungen nur mit Vorsicht zu interpretieren (aussagekräftiger sind Metaanalysen wie die von Wright et al., 'Pornography Consumption' 1–29), doch können sie zumindest als Indiz für eine womöglich erhebliche Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung und der Fremdwahrnehmung von Pornographienutzer:innen hinsichtlich der Effekte der Pornographienutzung gewertet werden" (Fußnote 282, Seite 480).

So kommt Schreiber hier zu folgendem Fazit auf Grund der Studienlage: "Ebenso wenig, wie sich eine allgemeine Schädlichkeit von Pornographie behaupten lässt, kann aus der vorstehend skizzierten empirischen Forschungslage eine generelle Harmlosigkeit oder gar Nützlichkeit von Pornographie abgeleitet werden." (S. 482).

Und wenn Schreiber die Frage des sexuellen Kindesmissbrauchs ethisch beleuchtet, kommt er zu dem Schluss: "Sexueller Kindesmissbrauch kann als ein die physisch-psychische Gesundheit ebenso wie die soziale, emotionale und sexuelle Entwicklung eines Menschen langfristig und in erheblichem Maße beeinflussendes 'psychisches und physisches Trauma' verstanden werden, welches schwerwiegendere Langzeitfolgen für die Überlebenden nach sich ziehen kann als andere Formen der Kindesmisshandlung." (S.653) Auch das wird mit evidenzbasierten Studien begründet.

Auch wenn dieses umfassende Werk durch die vielen Verweise auf andere Quellen und ein sehr langes Literaturverzeichnis sowie lange Abschnitte über Begriffsdefinitionen manchmal schwer zu lesen ist – wer ein Kompendium zur Sexualethik sucht, wird bei Gerhard Schreibers Buch fündig.

Gleiches gilt für alle, die sich fundierte ethische Urteile zu einzelnen Themen der Sexualethik (zum Beispiel Prostitution, Sadomasochismus oder Erklärungsansätze sexualdelinquenten Verhaltens) bilden wollen. So ist dieses Werk sicherlich als der neue Goldstandard protestantischer Sexualethik zu bezeichnen.