"Gott schuf den Menschen … als Mann und Frau." (Genesis 1,27) Nun gibt es offensichtlich auch intergeschlechtliche Menschen, die ja nicht eindeutig Mann oder Frau sind. Macht Gott Fehler?
Gerhard Schreiber: Nicht Gott macht Fehler, sondern der Mensch, wenn er denkt, dass Gott sich an die von Menschen gemachten Kategorien zu halten hat. Es ist falsch, Menschen, die den alternativen Kategorien "männlich" oder "weiblich" nicht entsprechen können oder wollen, als defizitäre Abweichungen von einer Norm oder Regel zu betrachten. Ich halte es da mit Fernando Pessoa, der einmal so schön gesagt hat: "Alle Menschen sind Ausnahmen von einer Regel, die es nicht gibt."
Jetzt haben Sie die Begriffe "männlich" und "weiblich" eingeflochten, die ja im Hebräischen genau so stehen, als Adjektive. In der Lutherbibel wird allerdings auch nach der jüngsten Revision noch mit "Mann" und "Frau" übersetzt, sowohl in Genesis 1,27 als auch in Galater 3,28. Hat die Lutherbibel dazu beigetragen, dass sich in unserer Kultur eine zweigeschlechtliche Norm etabliert hat?
Schreiber: Ja, in der Tat, wenn man bedenkt, was für einen unübersehbaren Einfluss die Lutherbibel auf die Sprach-, Kultur- und Geistesgeschichte gehabt hat, gerade auch, was die schillernde Rezeptionsgeschichte von Genesis 1,27 betrifft. Allerdings finde ich es erstaunlich, dass es gerade in der Alten Kirche auch wesentlich offenere Deutungen gab, wenn etwa von der Androgynität des Urmenschen die Rede war. Ich finde es irritierend, dass bei der Lutherbibelrevision wieder "Mann" und "Frau" übersetzt wurde, vor allem auch deshalb, weil die neue Einheitsübersetzung von 2016 hier wesentlich näher am hebräischen und griechischen Text ist und durchgehend "männlich" und "weiblich" verwendet hat.
In Ihrem Text in dem neuen Tagungsband schreiben Sie: "Geschlechtliche Vielfalt ist für Kirche und Theologie ein blinder Fleck." Das erinnert mich daran, dass die geplante Publikation der EKD zur Sexualethik 2014 gestoppt wurde. Mir scheint es, als würden diese Themen im Studienzentrum der EKD für Genderfragen "versteckt", um nicht so groß an die Öffentlichkeit zu gelangen. Warum, denken Sie, tut sich die EKD so schwer mit den Themen Geschlecht und Sexualität?
Schreiber: Zunächst: Das Studienzentrum für Genderfragen leistet hervorragende Arbeit, wenngleich ich mir größere Sichtbarkeit in der Gesamt-EKD wünschen würde. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass sich gerade an den Fragen zu Geschlechtlichkeit und Sexualität unzählige, oftmals sehr kontroverse innerkirchliche Diskussionen und Debatten entzündet haben. Insofern ist die Zurückhaltung der EKD bei diesem Thema durchaus verständlich, so sehr ich das persönlich bedauere. Man könnte auch argumentieren: Gerade für das protestantische Selbstverständnis einer Kirche gilt doch die stete Bereitschaft zur Überprüfung und auch gegebenenfalls zur Infragestellung traditioneller "Richtigkeiten". Hier geht es schlicht um die reformatorische Freiheit, die uns legitimiert, auch von einer überholten "Normativität" zu sprechen.
"Geschlecht ist vielfältiger und komplizierter, als das alltägliche Miteinander suggeriert"
Ich denke, offene Diskussionen dazu sind auch in den Gemeinden notwendig, denn viele Christ*innen haben Schwierigkeiten mit all den Themen, bei denen es um Abweichungen vom "heteronormativen Familienmodell" geht. Warum haben Menschen diese Anfragen?
Schreiber: Ich würde da von der Alltagserfahrung ausgehen. Wir sind, salopp gesagt, mit der Annahme der Zweigeschlechtlichkeit groß geworden. Wenn man im alltäglichen Zusammenleben einem Menschen begegnet, dessen Geschlecht entweder nicht eindeutig zu sein scheint oder aber zu dem, was man sieht, nicht passt, reagiert man verständlicherweise unsicher oder irritiert oder nimmt sogar Abstand. Interessanterweise zeigt die Biologie, die man oft als Garant für die Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität ins Feld geführt hat, dass es bei näherer Betrachtung gar nicht so einfach ist, wie man gemeinhin denkt. Geschlecht ist vielfältiger und komplizierter, als das alltägliche Miteinander suggeriert.
Kompliziert ist es auch, die richtigen Begriffe zu finden und zu nennen. Der Titel des Tagungsbandes lautet "Diverse Identität. Interdisziplinäre Annäherungen an das Phänomen Intersexualität". Wie lange haben Sie und Ihre Kolleginnen über diesen Titel nachgedacht?
Schreiber: Der Titel legte sich durch die gleichnamige Tagung in Loccum nahe und bezieht sich mit "divers" auf die dritte Eintragungsmöglichkeit von Geschlecht in das Geburtenregister. Ja, über die Wortwahl lässt sich streiten. Und trotzdem muss man – wie bei jeder Buchveröffentlichung – dem Kinde auch mal einen Namen geben, sozusagen, so sehr dieser gewiss nicht bei allen Beteiligten auf ungeteilten Zuspruch stoßen wird. Das kann ich mir durchaus vorstellen bei dem Begriff "Identität", der ja auch teilweise zu Recht von Interessensverbänden kritisiert wird.
Warum wird der Begriff "Identität" kritisiert?
Schreiber: Ich kann diese Kritik nicht ganz nachvollziehen. Wie ich auf verschiedenen Veranstaltungen gemerkt habe, sehen manche Interessensverbände an dieser Stelle die Gefahr einer Fremdbestimmung, eines Eingriffs in ihre eigene Wahrnehmung und Selbstbestimmung, wenn jemand von Identität oder Geschlechtsidentität spricht. So als sei dies eine Hülse, die einem wieder von außen übergestülpt wird: Man wird als etwas bezeichnet und so hat es zu sein, weil es ein anderer definiert hat.
Ich störe mich offen gestanden ein bisschen an dem Wortbestandteil "-sexualität"…
Schreiber: Kann ich gut verstehen.
… denn dabei denken viele Menschen nicht an "Geschlecht", was ja gemeint ist, sondern an "Sexualität", und das führt dann zu Moralisierungen. Wäre nicht "Intergeschlechtlichkeit" ein besseres Wort als "Intersexualität"?
Schreiber: Das ist eine gute Frage. Trotzdem kann man ja erst einmal rein etymologisch sagen, dass Sexualität, wenn sie Lateinisch "sexualis" zugrunde legen, sinngemäß "Geschlechtlichkeit" meint, also umfassender als "sexuelle Orientierung" und dergleichen ist. Interessant ist, dass im Bereich der Interessensverbände bewusst und selbstverständlich von "Intersexualität" gesprochen wird, wie man zum Beispiel am "Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V." sieht. Ganz anders wird das bei "Transsexualität" gesehen, wo einige Personen ganz bewusst andere Begriffe bevorzugen, nicht zuletzt aus dem Grund, weil "Transsexualität" der in Recht und Medizin gebrauchte Begriff ist. Transsexualität ist die "Diagnose", die man sich vom Gutachter bescheinigen lassen muss und die deshalb von manchen als Selbstbeschreibung abgelehnt wird. Anders als Transsexualität handelt es sich bei Intersexualität aber nicht um eine medizinische Diagnose. In der Medizin spricht man von DSD, also "Differences" oder, wie früher noch, von "Disorders of sex development", also "Unterschiede" oder "Störungen" der Geschlechtsentwicklung. Intersexualität meint eine Sammelbezeichnung für ganz verschiedene Phänomene, deswegen ist das Wort "differences" passender als "disorders", letzteres ist pathologisierend. In unserem Buchtitel kann der Begriff "Intersexualität" meines Erachtens außerdem daran erinnern, dass selbstverständlich auch intersexuelle Menschen eine Sexualität haben, die ihnen in vielen Fällen aber durch operative Eingriffe kurz nach der Geburt geradezu einschneidend verändert worden ist.
Viele intergeschlechtliche Menschen leiden sehr darunter, dass sie als Kind an ihren Genitalien operiert wurden. Die intergeschlechtliche Person Lucie Veith übt in dem Buch heftige Kritik an solchen "geschlechtsvereindeutigenden" oder "geschlechtszuweisenden" Operationen und sagt, eine solche Operation stelle "eine schwere Menschenrechtsverletzung, einen unerlaubten Eingriff in Grund- und Menschenrechte" dar. Wie beurteilen Sie das als Theologe?
Schreiber: Ich stimme Lucie Veith zu. Wenn keine medizinische Notwendigkeit für eine solche irreversible Operation besteht, dann kommt dies in der Tat einem Eingriff gleich, der – und das finde ich nicht übertrieben von Interessensverbänden – mit Genitalverstümmelungen gleichgesetzt werden muss. Denn ethisch gesehen muss bei jeder körperlichen Intervention das informierte, selbstbestimmte Subjekt im Mittelpunkt stehen. An der Geschichte der Eingriffe an Säuglingen, die man für intersexuell gehalten hat, sieht man deutlich, dass man sich oft eher an dem Machbarkeitsprinzip und weniger an den realen Lebensbedürfnissen orientiert hat. Der Deutsche Ethikrat hat das in seiner Stellungnahme 2012 ja auch als Fehlentwicklung kritisiert, dass viele Menschen durch diese Eingriffe aufs Tiefste verletzt wurden und Einschränkungen in ihrer Lebensqualität erlitten haben.
Eine interessante Figur aus der Bibel hat ein ähnliches Schicksal erlitten: Der äthiopische Kämmerer aus der Apostelgeschichte (8, 27) ist kastriert. Die Lutherbibel und die Einheitsübersetzung unterschlagen das Wort "eunuchos". In der Erzählung lässt der Äthiopier sich taufen und wird am Ende "fröhlich". Was haben Sie aus dieser Geschichte gelernt?
Schreiber: Schlicht die Tatsache, dass die Bibel, wenn es um die Frage der Christuszugehörigkeit geht, das Geschlecht eines Menschen für nicht entscheidend hält. Das wäre auch eine absurde Situation, wenn man einerseits den Glauben, das sola fide, herausstellt, und dann andererseits Voraussetzungen macht, was das Geschlecht angeht. Also ganz klar: Entscheidend ist der Glaube eines Menschen, nicht das Geschlecht. Oder anders gesagt: Gott sieht das Innere eines Menschen an, nicht sein Geschlecht. Oder nochmal anders gesagt: Ein Gotteskind braucht kein Geschlecht.
"Sprich, damit ich dich sehe."
In der neuen Publikation wird von einer intergeschlechtlichen niederländischen Sportlerin berichtet, die sich in der Kirche offenbar nicht willkommen oder nicht zuhause fühlte. Auch Lucie Veith klagt über "fehlenden Respekt gegenüber der Geschlechtlichkeit von Menschen". Was sollen Pfarrer*innen und andere Mitarbeitende in den Gemeinden anders machen als bisher?
Schreiber: Meiner Ansicht nach sollten Theologie und Kirche erst einmal wahrnehmen, dass es intersexuelle Menschen gibt. Theologie und Kirche sollten sich weniger in anthropologische Reflexionen über die Frage der Zweigeschlechtlichkeit und möglicher Ausnahmen ergehen, sondern vielmehr intersexuellen Menschen zuhören und in Erfahrung bringen, was ihre Bedürfnisse, ihre Herausforderungen und ihre Probleme sind. Die Menschen sollen selbst zu Worte kommen und ihre Lebensgeschichte erzählen können, nach dem Motto: "Sprich, damit ich dich sehe." Das erfordert ganz gewiss Mut der Betreffenden, über sich zu reden. Ich habe in vielen Zusammenhängen die Erfahrung gemacht, dass gerade die persönliche Begegnung mit diesen Menschen und deren Lebensgeschichten bei Anderen die Augen öffnen kann für das Leid dieser Menschen und für ihre Schicksale, die ja oft sehr bewegend und tragisch und schmerzvoll gewesen sind. Wir dürfen nicht vergessen, wem jegliche theologische Diskussion dienen soll: dem Menschen als Mitmenschen.