Die Idee kam aus England. Für Pamela Warhust war die gemeinsame Sprache der Einwohner von Todmorden in West-Yorkshire das Essen. Zusammen mit Mary Clear entwickelte sie 2008 das Konzept der "Edible City" (Essbare Stadt). Unter dem Motto "Incredible Edible" (unglaublich essbar) gründete sie die erste "essbare Stadt" weltweit. Ihre Mitbürger sollten lernen, die Welt und ihre Räume anders wahrzunehmen: als Anbaugebiet für Nahrungsmittel. So wurde Todmorden zu einem überdimensionierten Küchengarten.
Schon ein Jahr später zogen die ersten deutschen Städte nach: Andernach mit einem kommunalen Projekt, das 2014 auf der Internationalen Grünen Woche in Berlin Schlagzeilen machte. Seitdem nennen sich immer mehr Städte "essbar". Seien es Kassel mit einem gleichnamigen Verein, Frankfurt mit seinem privaten Urban-Farming-Projekt der "Gemüseheldinnen", Berlin mit seinen Bezirksinitiativen oder München mit einem Gemeinschaftsgarten. Gesunde Selbstversorgung ist gefragt, ernährungspolitische Autarkie der Städte.
Der Kasseler Gärtner Karsten Winnemuth will den Begriff "essbare Stadt" schon 2007 erfunden haben. Da er auf "Permakultur" schwört, eine landwirtschaftliche Planungsmethode im Einklang mit der Natur, wollte er "die Verwaltung zu nachhaltiger Entwicklung inspirieren", wie er dem Evangelischen Pressedienst (epd) erzählt. Zu seinem Verein gehören 130 Mitglieder, die in Gemeinschaftsgärten Gemüse anbauen. "Wir haben auch 500 Obstgehölze in 17 von 23 Stadtteilen gepflanzt, vor allem Äpfel, Birnen, Walnüsse und Esskastanien. Davon dürfen alle ernten."
Die Stadt Andernach in Rheinland-Pfalz verbindet den nachhaltigen Lebensmittelanbau mit einer sozialen Perspektive: "Langzeitarbeitslose und behinderte Menschen bebauen die öffentlichen Beete mit Obst, Gemüse und Kräutern", erläutert die Touristen-Information. Jedes Jahr gibt eine besondere Gemüsesorte den Ton an: 2010 waren es 101 Tomatensorten, 2011 folgten Bohnen. "In diesem Jahr steht der Kürbis im Mittelpunkt", sagt Anneli Karlsson, stellvertretende Leiterin des Sachgebiets Umwelt und Nachhaltigkeit in der Stadtverwaltung.
"Pflücken erlaubt", heißt es auch bei den Obstbäumen am Stadtgraben, denn jeder darf zugreifen. "Der soziale Aspekt ist auch wichtig, da wir sehen, dass Menschen sich in der Stadt wohlfühlen und sich dort gerne aufhalten", ergänzt Karlsson.
Alte Berliner und Berlinerinnen erinnern sich, dass schon im Zweiten Weltkrieg der Tiergarten mit Kartoffeln und Gemüse bepflanzt wurde, "Kriegswirtschaft" nannte sich das. Heute gibt es in Berlin laut der Stiftung Interkultur rund 100 Gartenprojekte. Einige in dem "Essbaren Bezirk" Charlottenburg-Wilmersdorf. Die Anwohner des Nikolsburger Platzes in Wilmersdorf pflanzen seit 2013 nach dem Vorbild Andernachs Gemüse, Kräuter und Stauden auf ihrem Platz an. Das Bezirksamt unterstützt sie mit einem Wasserzugang, der für den märkischen Sandboden wichtig ist.
"Mit den Bezirken sollen in den kommenden Jahren bezirkliche Ernährungsstrategien entwickelt werden", erklärt Jan Thomsen, Pressesprecher der Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher und Klimaschutz. "Die Verwaltungen kooperieren hier interdisziplinär unter Beteiligung verschiedener Ressorts. Eine zentrale Steuerung erfolgt nicht."
In Charlottenburg etwa hat der Verein "ParkHaus Lietzensee" 2018 einen Pflegevertrag mit dem Grundstückseigner geschlossen. Im Seegarten am Lietzensee lernen Kinder den ökologischen Anbau von Obst und Gemüse.
Inzwischen sind Berlin und Andernach Partnerstädte im EU-geförderten Projekt (2018-2023) Edible Cities Network: Mithilfe von "Masterplänen Essbare Stadt" soll ein Netzwerk aus "Vorreiter-Städten" und "Folgestädten" geschaffen werden, um weltweit vor allem sozial benachteiligte Stadtquartiere lebenswerter zu machen.
"Gemüseheldinnen" sind in Frankfurt am Main am Werk: Auf dem Uni-Campus Westend hatten sie 2019 ihre erste "Permakultur-Insel" bestellt. Im angesagten Nordend beackern sie in Gruppen 15 Gärten in der "Grünen Lunge", die dem Wohnungsbau mühsam abgerungen wurde, und in Sachsenhausen betreiben sie mit einer Gärtnerei "Stadtfarming".
"Wir möchten Frankfurt gemeinschaftlich essbar machen und dafür die Landwirtschaft in die Stadt holen", sagt Laura Setzer, die das Projekt zusammen mit Juliane Ranck initiiert hat. "Nahversorgung" ist das Zauberwort, die natürlichen Ökosysteme sind das Vorbild. Das Fernziel: essbare Inseln zur Selbstbedienung. Bei den "Gemüseheldinnen" und ihren mehr als 250 Mitstreitern und Mitstreiterinnen werden alle satt, auch Vögel und Schmetterlinge.