Auf der Insel Reichenau wirkt die evangelische Kirche ganz nahe am Evangelium: Sie tauft neue Christen nicht in der Heilig-Geist-Kirche, die sich in der Mitte der Insel befindet. Vielmehr werden seit bald 20 Jahren die Kinder direkt am See aus der Taufe gehoben.
So wie der Prophet Johannes im Jordan stehend taufte, steigt auch Pfarrerin Sabine Wendlandt im schwarzen Talar und mit grüner Stola in den Bodensee. Fünf Kinder aus vier Familien wurden bei dem feierlichen und entspannten Taufritus in die evangelische Kirche aufgenommen.
Für die meisten Beteiligten war die öffentliche Familienfeier unter freiem Himmel anfangs ungewohnt. Während die Helfer der Kirchengemeinde den improvisierten Altar mit einem weißen Tischtuch überziehen und ein einfaches Kreuz aufstellen, haben die ersten Badegäste bereits ihre Badetücher ausgebreitet.
Als Platz für die Taufe war ein belebter Strand am Campingplatz Sandseele ausgesucht worden. Bei hochsommerlichen Temperaturen herrscht dort Hochbetrieb. Wohnmobile suchen Lücken auf dem Platz, junge Stand-up-Paddler rüsten sich für die beliebte Inselumrundung. Mitten im sommerlichen Treiben agiert eine ebenso engagierte wie energische Pfarrerin.
Klare Worte, einfache Sprache
Die Lieder waren von den vier Familien ausgesucht worden. Darunter auch "Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer". Sabine Wendlandt hält den Gottesdienst mit einfachen und klaren Worten, im Hintergrund ragt die Halbinsel Höri mit der prägnanten Kirche von Horn auf, daneben die Altvulkane des Hegau, ganz im Süden dann die Dörfer am Schweizer Ufer.
Auch der Psalm 103 gehört zur Feier, in einfacher Sprache wechselnd gesprochen. Auf eine Predigt verzichtet die Pfarrerin und legt stattdessen die Taufsprüche der fünf Kinder kurz aus. Besonders treffend: "Jesus sollte das Licht des Lebens, unser tägliches Licht sein - nicht nur die Notbeleuchtung."
Dann der Höhepunkt der Feier: die eigentliche Wasserspende. Zusammen mit ihrer ehrenamtlichen Assistentin Susanne Wetzel steigt die Pfarrerin in die Fluten. Die Familien folgen dem Beispiel, gut vier Meter vom Ufer entfernt.
Eindrückliche Zeremonie
Der Kern der Zeremonie gestaltet sich ungewöhnlich. Denn Sabine Wendlandt kam ohne Arme auf die Welt: Sie bewältigt ihren Alltag vom Pfarrdienst bis zur Bedienung des PC mit den Füßen. Für das Spenden der Taufe verwendet sie ihre Zehen, die eine kleine, silbern glänzende Schale in Form einer Jakobsmuschel halten. Für die Zeit, die sie auf einem Fuß stehen musste, wird sie von Susanne Wetzel gestützt.
Mehr noch als vom Standort der kirchlichen Handlung sind die Familien von der Selbstverständlichkeit beeindruckt, mit der die Pastorin diese Situation meistert und jeder Familie etwas Gutes sagt. "Ich begrüße euch, Ihr gehört jetzt zur evangelischen Kirche", sagt sie zu den fünf Kleinkindern, als alle wieder das Ufer erreicht haben. Bis auf ein Kind haben alle Täuflinge ihre Taufe ohne Tränen überstanden. Die Familien sind angetan von der Liturgie im Freien. "Diese Taufe ist etwas Besonderes", sagt etwa Saskia Köllisch. Sie und ihr Mann haben zwei Kinder für mitgebracht: "Mir und meinem Mann ist dieser Akt wichtig."
Die Insel Reichenau ist traditionell katholisch geprägt. Die ersten evangelischen Christen zogen erst im 19. Jahrhundert auf die Reichenau, die zum Kirchenbezirk Konstanz gehört. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich das konfessionelle Bild schlagartig, als sich vertriebene Deutsche mit evangelischem Bekenntnis auf der Insel ansiedelten. Rasch wurde eine Kirche gebaut, die zunächst vom Festland mitversorgt wurde. 1994 erhielt die Heilig-Geist-Gemeinde mit Holger Müller den ersten eigenen Pfarrer. Müller war es auch, der die Seetaufe einführte und diese einmal im Jahr anbot. Seine Nachfolgerin führt diese junge Tradition fort. Die Inselgemeinde zählt derzeit 820 Mitglieder. Etwa zehn Taufen hält Wendlandt pro Jahr ab.