"Es gehört nun weniger als die Hälfte der deutschen Bevölkerung einer der großen Kirchen an", sagte der Professor im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Damit steige die Herausforderung, neue Formen der Mitgliederbindung und öffentliche Relevanz zu finden. "Die Frage nach der Zukunft der Kirchen in der postsäkularen Gesellschaft drängt." Lämmlin ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Hannover.
Am Montag hatte die katholische Deutsche Bischofskonferenz bekannt gegeben, dass 2021 fast 360.000 Menschen der katholischen Kirche den Rücken gekehrt haben - so viele wie nie zuvor. Auch die EKD verzeichnet weiter sinkende Mitgliederzahlen. Die Zahl der Austritte stieg im Vergleich zu 2020 um 60.000 auf rund 280.000. 2021 gehörten den Angaben zufolge 19,7 Millionen Deutsche der evangelischen Kirche an und rund 21,6 Millionen der katholischen.
Die Zahlen machen nach Ansicht von Lämmlin einmal mehr deutlich, wie nötig kirchliche Transformationsprozesse sind. Der Soziologe plädiert für mehr innovative Beteiligungsformate, mehr soziale Nähe und einen Austausch auf Augenhöhe. Die religiöse Kommunikation müsse "von der Kanzel herunter" in die Mitte des gesellschaftlichen Dialogs.
Ende der Kanzelpredigt bringt Wandel
Das "Ende der Kanzelpredigt" bringe für das Selbstverständnis der Pfarrer einen erheblichen Wandel mit sich - weg von einer Verkündigung von oben herab hin zum "Ermöglichen religiöser Kommunikation". Mit ihrer "Kompetenz für Trost" könnten die Kirchen Formen entwickeln, in denen Menschen ein wohltuendes Miteinander ermöglicht werde. Es gehe darum zuzuhören, Alltagsthemen wahrzunehmen und die Menschen einzubeziehen. "Weniger formelle Abendmahlsliturgie - mehr gemeinsames Essen", sagte Lämmlin.
Kirchen böten ideale Bedingungen für zivilgesellschaftliches Engagement. Ob es darum gehe, kontroverse Debatten zu moderieren oder Plattformen für Initiativen bereitzustellen: "In den Kirchen schlummert ein Reichtum an sozialer Teilhabe und Sinngebung, die neu in die Gesellschaft eingespielt werden kann." Beteiligung, Engagement und Interaktion lösten bei den Menschen ein Gefühl von Selbstwirksamkeit aus. Insofern sei dieser Dreiklang eine "Zauberformel", damit sich die Menschen wieder mit der Kirche identifizieren könnten.
Es sei wichtig, sich einzugestehen, dass die Erwartung der Menschen, in der Kirche geschützte Räume zu finden, durch die Fälle sexuellen Missbrauchs nachhaltig erschüttert sei, sagte Lämmlin. Diese Vorfälle und die berechtigte Skandalisierung wirke sich auf die gesamte Wahrnehmung der Institution Kirche aus und werde "durch die zögerliche und zum Teil verschleiernde Aufarbeitung verstärkt".
Dieser Abwärtstrend lasse sich zurzeit nicht stoppen. Er sei aber überzeugt, dass sich auf längere Sicht wieder Vertrauen in die Kirche entwickeln werde, weil ihre Versöhnungsbotschaft aktuell und wichtig bleibe, sagte Lämmlin.